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Archiv-Artikel

unterm strich

Die Faszination von Wartezimmern lässt sie nicht los. „Davon wird mein nächstes Buch handeln“, sagt Lenka Reinerova. Die Tschechin spricht einen Dialekt, den nach den europäischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts kaum mehr jemand beherrscht: Prager Deutsch. „Wenn Sie wissen wollen, wie Franz Kafka gesprochen hat, hören Sie Lenka Reinerova zu“, brachte es der Berliner Verleger Klaus Wagenbach vor kurzem auf den Punkt. Heute wird Prags letzte Deutsch schreibende Autorin 90 Jahre alt. Derzeit vollendet sie ihre neuen Erzählungen: auf einer betagten Schreibmaschine – und natürlich in Deutsch. Prager Deutsch zu schreiben, ist für die Grande Dame der böhmischen Literatur nach eigenen Worten normal. „Es ist im wahrsten Sinne des Wortes meine Muttersprache. Meine Mutter war Deutschböhmin aus Saaz, mein Vater ein tschechischer Eisenwarenhändler aus Prag.“ Reinerova wurde 1916 in Prag geboren und begann 1935 als Redakteurin der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung. Vier Jahre später floh die Jüdin vor den Nationalsozialisten über Marokko und Frankreich nach Mexiko, wo sie mit dem „rasenden Reporter“ Egon Erwin Kisch arbeitete.

1948 kehrte sie zurück, wurde 1952 aber Opfer der stalinistischen Verfolgungen und saß ohne offizielle Anklage 15 Monate im Gefängnis. Zunächst rehabilitiert, erhielt sie erneut nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 bis zur „Samtenen Revolution“ 1989 Veröffentlichungsverbot. Der bitteren Zeit im Gefängnis Prag-Ruzyne ist ihr persönlichstes Buch gewidmet: „Alle Farben der Sonne und der Nacht“, erschienen 2003 im Aufbau-Verlag. 1999 wurde sie mit dem Schillerring ausgezeichnet, später erhielt sie die Goethe-Medaille, 2002 die Ehrenbürgerschaft von Prag.