ulrike herrmann über Non-Profit : Pfui Spinne!
Ein Zeckenbiss kann unglaublich gefährlich sein – vor allem bei Hypochondern wie mir
„Du musst unbedingt zum Arzt!“ Zwei Augenpaare haben sich geweitet, starren mich an. Es ist ein sonniger Nachmittag, alle Artikel sind geschrieben, man hätte sich nun entspannen können. Wenn ich nicht meine beiden Kollegen gefragt hätte: „Was würdet ihr denn tun?“
Also zum Arzt. Genau diese Antwort habe ich gefürchet. Drei Typen von Hypochondern habe ich bisher katalogisiert. Typ I ist überhaupt nicht krank, denkt aber, er würde gleich sterben. Typ II macht aus einem Schnupfen eine Grippe, und Typ III glaubt, er sei schwer krank, und geht genau deswegen nicht zum Arzt. Jeder der drei Typen ist häufig anzutreffen. Doch habe ich es nur einmal erlebt, dass sie sich alle drei in einem Menschen vereinigen – in mir.
Also zum Arzt. „Seid ihr sicher?“, frage ich, typisch Typ III, meine Kollegen. Die beiden nicken. Und Typ II in mir gibt ihnen Recht. Ich habe eine Zecke. Das heißt, ich hatte eine Zecke. Jetzt habe ich nur noch den Kopf einer Zecke. Das Hinterteil habe ich herausgerupft, gestern um Mitternacht.
Eigentlich wollte ich der Zecke gar nichts tun, ganz niedlich zappelte sie an meiner Wade und wurde langsam größer. Schon zwei Tage lang saugte sie mein Blut. Dann aber beging sie den Fehler, zu jucken. Um Mitternacht. Sie oder mein Schlaf! Ich holte die Pinzette.
„Hast du wenigstens gegen den Uhrzeigersinn gedreht?!“ Ich nicke, aber es stimmt nicht. Ich habe jede Richtung ausprobiert, denn dieses Minibiest gab nicht auf, verbiss sich bis zum Tod. Irgendwann quoll hellrotes Blut hervor. Kein schöner Sieg. Außerdem steckte der Kopf noch drin.
Typ I in mir wusste sofort, was das bedeutet. Alles fiel mir wieder ein. Ich dachte an meinen Vater, dessen linkes Ohr einst anschwoll, bis es so groß und rot war wie ein rohes Steak. Er sah aus wie ein einseitiger Klon von Captain Spock. Niemand konnte sich diese extraterrestrische Erscheinung erklären, bis endlich, nach einem Jahr, ein Arzt auf Borreliose testete. Antibiotika beendeten dann den Spock-Spuk. Oder die Freundin einer Freundin, deren Gelenke sich so stark entzündet haben, dass sie kaum noch gehen kann. Auch Borreliose. Aber bei ihr wurde es zu spät erkannt, die Medikamente halfen nicht mehr. Oder der Sohn einer Freundin meiner Mutter, der durch einen Zeckenbiss eine Gehirnhautentzündung bekam. Er wurde geheilt. Aber ob ich geheilt werde? Mein Typ I zweifelt daran.
Das Internet belehrt mich, dass ich die Hirnhautentzündung schon deswegen überleben werde, weil ich sie gar nicht haben kann. Meine Zecke wohnte vorher an der Saale, aber das Entzündungsvirus gastiert vor allem in Bayern und Baden-Württemberg. Doch dann wird www.meine-gesundheit.de streng: „Eine festsitzende Zecke sollte sofort entfernt werden.“ Also offenbar nicht erst nach zwei Tagen. Außerdem sollte man „das Tier möglichst nicht zerquetschen“. Denn „ungefähr jede 5. Zecke trägt die Borreliose in sich“. Und zwar in ganz Deutschland. Typ I in mir weiß, dass jede 5. Zecke genau das Gleiche meint wie jede Zecke.
Also zum Arzt. Er scheint schon viele Zeckenköpfe ohne Zecke gesehen zu haben, denn er ist längst nicht so erschüttert wie ich. Ob ich das schon wisse, fragt er mich, während er den schwarzen Punkt so mühelos aus meiner Wade herausdreht, als wäre der Zeckenkopf extra für die Pinzette gemacht. Was denn?, frage ich lieber nicht zurück. „Die Zecke hätte sich von selbst herausgewachsen.“ Ich hätte nur warten müssen, bis sich die Haut pellt. „Ein Wannenbad hätte auch geholfen.“ Denn die Zecke sei ja tot, „da kann sie sich gar nicht weiter ins Fleisch graben“. Das klingt verdammt logisch.
Also doch nicht zum Arzt? Na ja, sagt er nachsichtig, ich müsse natürlich auf die „Wanderröte“ achten. „Wie die Syphilis“ trete die Borreliose nämlich in drei Stadien auf, das erste sei eben diese harmlose Hautentzündung, das letzte könnten unheilbare Gelenkschäden sein.
Inzwischen fegt der Wattebausch mit dem Desinfektionsmittel über meine Wade. Ob ich das denn auch schon wisse, dass die Zecke eine echte Spinne sei. Das sagt mein Arzt so triumphierend, als sei es eine Auszeichnung, „kein Insekt!“ zu sein. „Sie hat acht Beine und einen typischen Widerhaken.“ Wer hätte das gedacht. Typ I bis III jedenfalls nicht. Diese überraschende Konkurrenztypologie bringt sogar sie zum Schweigen. Ja, man muss wirklich unbedingt zum Arzt.
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