ulrike herrmann über Non-Profit: Leben im 3/5-Takt
Ein normales Kind lernte Blockflöte, ich wurde zur „Orff-Gruppe“ geschickt und musste auf das Xylofon einprügeln
Man könnte mich behindert nennen. Aber bisher wollte das niemand glauben. „Streng dich mehr an!“, hieß es stattdessen. Doch jetzt ist meine „Fehlfunktion“ endlich medizinisch anerkannt. Sie heißt „Dysmusia“.Weniger fachlateinisch ließe sich auch sagen: Ich habe eine angeborene Musikschwäche.
Dysmusia – so ist im Internetdienst www.netdoktor.de zu erfahren – „macht es den Betroffenen trotz normaler Intelligenz und Sprachfähigkeit unmöglich, ein Instrument zu erlernen“. Genau! „Keine Probleme haben die Betroffenen dagegen beim Erkennen von alltäglichen Geräuschen, Liedtexten oder menschlichen Stimmen.“ So ist es. „Wissenschaftler schätzen, dass die Dysmusia relativ selten vorkommt: Sicherlich sind nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung davon betroffen.“ Das würde ich auch annehmen. Denn wären noch mehr Menschen außer mir dysmusisch, hätte es bestimmt ein paar einsame Momente weniger in meinem Leben gegeben.
In der Disko zum Beispiel. Noch nie hat es länger als zehn Minuten gedauert, bis meine Tanzpartner anfingen, unruhig zu werden: „Du bist die Erste, die ich kennen lerne, die einen [3]/5-Takt tanzt.“ Oder: „Siehst du die blonde Frau dahinten? Mach’s doch wie sie!“ Oder: „Vielleicht sollten wir erst mal was trinken gehen.“ Das war’s dann. Wieder war es mir nicht gelungen, mich in diesen geheimnisvollen Rhythmus einzufädeln, in dem die anderen so selbstvergessen-selbstverständlich schwanken wie die Algen am Meeresgrund.
Dass mit mir irgendetwas nicht stimmt, ahnte ich schon in der Grundschule. Das normale Kind lernte Blockflöte; ich wurde zur „Orff-Gruppe“ geschickt und durfte auf das Xylofon einprügeln. In der vierten Klasse führten wir eine Kinderoper auf. Das heißt, eben doch nicht „wir“. Das Stück hatte genau eine Sprechrolle – die bekam ich.
In der fünften Klasse hatte dann unser etwas ältlicher Musiklehrer den bequemen Einfall, uns vorsingen zu lassen, um die Zeugnisnoten zu verteilen. Ich wählte „Im Frühtau zu Berge“, das ich schon deswegen liebte, weil man Wanderlieder so laut schmettern darf. Das Ergebnis war eine Sechs. „Aber auch nur, weil es im deutschen Notensystem keine Sieben gibt“, wie unser Musiklehrer noch unbedingt loswerden musste.
Ihm ist allerdings nichts vorzuwerfen. Auch mit mehr Engagement hätte er an meiner Musikkschwäche nichts ändern können. Es war zu spät. Laut Netdoktor könnten zwar „maßgeschneiderte Trainingsprogramme und intensive Betreuung“ die Dysmusia ein wenig lindern – aber „ab dem zwölften Lebensjahr besteht kaum noch Hoffnung“.
Das kann ich nur bestätigen. Ob Spielmannszug im Kleingartenverein, Jazzdance auf dem Gymnasium oder Tanzkurs an der Uni – diese Veranstaltungen verliefen stets gleich. Die Lehrer brauchten keine Stunde, um zu erkennen, wem nachgeholfen werden musste. In der zweiten Stunde erhielt ich also gute Ratschläge, die auch in der dritten Stunde nichts bewirkten. In der vierten Stunde konzentrierten sich die Lehrer dann nur noch auf mich: Es konnte doch nicht wahr sein, dass Pädagogik einfach versagte. Zwanzig bis vierzig weitere Teilnehmer wurden daher ignoriert, sahen erst amüsiert, dann säuerlich meiner Sonderbehandlung zu. In der fünften Stunde verlor sich die Geduld: „Sie müssen zu Hause mehr üben!“ Und so waren alle erleichtert, wenn ich ab der sechsten Stunde konsequent schwänzte.
Wissenschaftler vergleichen Dysmusia mit der Legasthenie – beide „beruhen auf Entwicklungsstörungen des Gehirns“. Aber diese biologische Parallele lässt sich leider noch nicht ins Soziale verlängern. Uns Dysmusischen fehlt bisher das Imperium der Legastheniker. Die können weltweit Selbsthilfegruppen bieten, schon allein Berlin hat sechs „Legastheniezentren“. Es wird umfangreich geforscht und – besonders tröstlich – es gibt eine eindrucksvolle Ahnengalerie. Legastheniker waren etwa Leonardo da Vinci, Charles Darwin, Albert Einstein, Ludwig Wittgenstein, Auguste Rodin, Walt Disney, Winston Churchill, John F. und Robert Kennedy, Nelson Rockefeller, Niels Bohr, Thomas A. Edison, Hans Christian Andersen …
Legasthenie scheint also umstandslos auf Genialität hinzuweisen. An dieser sozialen Veredelung einer „Entwicklungsstörung des Gehirns“ sollten wir Dysmusischen uns unbedingt ein Beispiel nehmen. Erste Maßnahme: Wir vernetzen uns, um relevante Informationen über Berühmtheiten zu sammeln. Die Domain „www.dysmusia.de“ ist übrigens noch frei.
PS: Als kleine Information für andere Betroffenengruppen: „www.netdoktor.de“ bietet auch „Wissenswertes über Ohrentzündung im äußeren Ohr“.
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