uli hannemann, liebling der massen : Brennende Seele, kaltes Herz
Das Krankenhaus im fernen Osten ist mir völlig unbekannt. Ich war noch nie zuvor da. Gehört das eigentlich noch zu Lichtenberg oder schon zu Marzahn? Wenigstens die Frau auf dem Rücksitz meines Taxis weiß Bescheid. Sie dirigiert mich – ich muss nur fahren. Gasgeben, bremsen, lenken.
Hinter einer Schranke beginnt ein parkähnliches Gelände mit vereinzelten klobigen Backsteinbauten – etwa vorvorige Jahrhundertwende. Ich verfahre mich kurz auf der Suche nach Haus 21 und muss rückwärts wenden. In diesem Moment schweben vier Leute mit teilnahmsloser Miene langsam hinter mir vorüber. Sie besitzen etwas transzendental Entrücktes, das sie unverwundbar wirken lässt. Dennoch bremse ich, bis sie vorbeigeschwebt sind. „Vorsicht“, warnt die Frau, „das ist ein psychiatrisches Krankenhaus.“ Schließlich finden wir Haus 21. Sie bezahlt und steigt aus.
Auf dem Rückweg winken kurz vor der Schranke drei hagere, abgerissene Gestalten. Ich habe ein komisches Gefühl: Sie wirken ein bisschen, wie ich mir hier die Patienten vorstelle. Darf ich sie denn dann einfach mitnehmen? Die werden doch bestimmt vermisst. Und haben die überhaupt Geld? Die Frau hätte es mir gewiss sagen können, doch die ist an Haus 21 ausgestiegen. Ich halte trotzdem und sie steigen ein. Sie riechen nach Alkohol. Ob er rauchen dürfe, fragt der vorne. „Meinetwegen“, entgegne ich, „aber ich weiß nicht, wo der Aschenbecher ist – ich kenne mich mit dem Auto nicht so aus.“ Auch ihr Fahrtziel, das irgendwo in der Nähe liegen muss, ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Sie blicken irritiert und plötzlich fällt mir auf, wie merkwürdig ihnen das alles vorkommen dürfte: Ich sitze hier in einem Taxi, das ich offenbar nicht kenne, und fahre durch eine mir völlig unbekannte Stadt. Wo bin ich? Wie heißt diese Stadt? Waterloo? Mein Waterloo?
Die zwei hinten wispern. Sie beraten wohl, ob ich Patient bin. Vor Haus 21 sucht derweil der echte Taxifahrer verzweifelt sein Auto, das er nur kurz verlassen hat, um seiner Kundin beim Tragen einer riesigen Ananastorte zu helfen. Oder er liegt dort mit eingeschlagenem Schädel im Heizungskeller. Ich blicke in den Rückspiegel: Vielleicht sind meine Fahrgäste ja auch Ärzte – nach ihren Mammutschichten sehen die gerne mal so aus.
Womöglich bin ich sogar selber Arzt – das kann gut sein, schließlich heile ich schon seit Jahren das Volksempfinden. Das ist alles so verdammt schwer zu sagen. Was bin ich? Bin ich Haus 21? Wenn die Frau noch da wäre, könnte sie es mir sagen. Die Frau wusste alles: wo es langging, dass es sich um eine Psychiatrie handelte, wie man aus einem Taxi aussteigt. Ach, die Frau! Erst war sie da, nun ist sie fort! Tief seufze ich auf.
Vom blauen Himmel zuckt ein Blitz. „Fragen Sie die Frau“, höre ich eine Stimme aus mir sprechen, es ist nicht meine, vielmehr ein heiseres Bellen von irgendwo ganz tief unten aus den Abgründen meiner Seele, „fragen Sie die Frau, wo der Aschenbecher ist. Die Frau weiß alles!“
Entsetztes Schweigen schlägt mir entgegen. Von irgendwo her krächzt ein Rabe. Im Übrigen sehe ich die Ärzte gar nicht mehr. Die waren aber auch wirklich dünn – da sind sie irgendwann natürlich ganz weg. Das Auto fährt auf einmal lautlos, weich, wie auf Federn. Wir fliegen geradezu. Wohin? Egal. „Ich muss nur fahren“, schärfe ich mir unentwegt ein, „Gas geben, bremsen, lenken.“
Dann gebe ich Gas. Immer, wenn mir danach ist, bremse ich auch oder lenke ein wenig nach Gutdünken. Es plätschert in meinen Ohren. Das Auto ist ein Boot, die Stadt ist ein See. Wie still alles ist! Wer bin ich? Und dann weiß ich es endlich. Ich weiß alles. Ich bin die Frau. ULI HANNEMANN