uli hannemann, liebling der massen : Die Augen der sterbenden Taube klagen mich an
Das Wetter trainiert schon den halben Tag für den Weltuntergang, in den Disziplinen „Scheißesein“, „Auf die Nerven gehen“ und „Unentschlossene Selbstmörder anspornen“. Unablässig nieselt kalter Regen aus einem grauen Himmel. Kurz meine ich sogar ein paar Schneeflocken ausmachen zu können, und das im Oktober!
Aus trüber Tasse triefnasig Tee schlürfend stiere ich trotzdem traurig aus dem Fenster, während sich vor mir auf dem Bildschirm eine abkömmliche Alliteration an die andere reiht – es ist nun mal das einzige Stilmittel, das ich kenne. Von draußen schreckt mich ein schabendes Geräusch am Fensterabsatz auf: Eine Taube ist gelandet, oder, bei näherem Hinsehen eher deren schrecklich gespenstischer Schatten, eine Horrorgestalt aus einem Gruselfilm für Tauben, dem „Tag der fliegenden Leichen“.
Der völlig fertige Vogel ist klapperdürr. Er wirkt wie von einem Falken gegriffen und nach Blick auf das Verfallsdatum entsetzt wieder fallengelassen. Das Gefieder ist nass, schmutzig und speziell am dünnen Hals so lückenhaft, dass rosige Haut durchschimmert; die Augen sind stumpf wie das Essbesteck im Speisesaal der Sicherungsverwahrung. Das kranke Tier zittert wie Espenlaub. Solange es Friedenstauben gibt, dürfte es immerhin auch Kriegstauben geben – so in der Art stellte ich sie mir jedenfalls vor.
Dabei ist sie kleiner und heller als die üblichen Luftratten: eine Brieftaube? Einen Ring sehe ich allerdings nicht, doch bestimmt hat sie den bereits abgeliefert. Sie stirbt nämlich, so viel ist sicher. Späten Vogel frisst der Wurm – ausgerechnet hier vor meinem Fenster, und ich kann nicht umhin, das persönlich zu nehmen. So viel Symbolik macht mir Angst. Das kann beim besten Willen kein Zufall sein: eine Taube, die durch das halbe Land geflogen ist, um, stummer Vorwurf der Lüfte, 50 Zentimeter vor meiner Nase ostentativ den Löffel hinzuschmeißen. Dazu noch dieses Wetter. Das geriatrische Geflügel erinnert mich an alles Schlechte, was ich je getan habe, und das ist eine ganze Menge.
Die Taube zittert. Als ich mit meinem Armen fuchtle, zeigt sie keine Reaktion; als ich von innen an die Scheibe klopfe, sieht sie mich nur mit müden, unendlich traurigen Augen an – es sind die Augen von Stefan, den ich in der Schule ständig verkloppt habe; die Augen von Petra, die ich wegen einer anderen Hals über Kopf sitzen ließ; die Augen von Großmutter, die ich viel zu selten besucht habe vor ihrem Tod. Dazu die Augen hunderter Obstbauern, die ich beklaut, hunderter Kneipenwirte, die ich geprellt, hunderter Leser, die ich gelangweilt, und hunderter Mücken, die ich erschlagen habe. Sie alle klagen mich an, in Gestalt einer sterbenden alten Taube.
Dennoch schießt mir in diesem Moment eine praktische Frage durch den Kopf: Was ist eigentlich, wenn sie tot auf meinem Fensterbrett liegen bleibt – kann ich sie dann mit dem Besen einfach runterschubsen? Was würde Buddha tun, was Jesus, was die BSR? Außerdem bin ich zu manchen Menschen auch schon nett gewesen. Dafür möge sich mir doch bitte schön exakt die umgekehrte Show bieten, von mir aus gleich morgen: eine kerngesunde Singdrossel, die sich im strahlenden Sonnenschein vor meinem Fenster aus dem Ei pellt und mir jubilierend Kussflügelchen zuwirft. Zuckerbrot und Peitsche eben. Ich fände das nur fair.