theorie und technik : Der Aufstand des Jean Baudrillard
Baudrillard befreite die Nachgeborenen von dem Verdacht, bloße Nachspieler der 68er-Revolte zu sein
Wer in den Achtzigerjahren studierte, fand sich im drögen Fahrwasser von 68 wieder. Man hatte den Kapital-Lesekurs absolviert und das untrügliche Gefühl, alle Diskussionen dazu seien schon geführt worden. Alle Irrtümer schienen, mit Brecht gesprochen, verbraucht.
In dieses Ambiente schlug Baudrillards Buch „Der symbolische Tausch und der Tod“ (1982 auf Deutsch erschienen) ein. Hier war es gewissermaßen erwartet worden.
Denn da war einer, der selber der 68er-Generation angehörte (1966 wurde er Assistent an der Universität von Nanterre), der uns Nachgeborene von der Last von 1968 befreite: Er befreite uns von den Versprechungen, dass der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zur Befreiung führen würde. Und er befreite uns von der Vorstellung, diese Unlösbarkeit nötige uns, die alten akademischen und politischen Gefechte endlos weiterspielen zu müssen.
Ja, mehr noch: da kam einer, der unser Nachspielen zu seinem Thema machte; der uns erzählte, dass wir die bisherigen Diskurse – allen voran den Marxismus, in jener Form, wie er damals an den Universitäten zirkulierte – über Bord werfen können, da ebendiese kritischen Diskurse nur mehr die letzten Alibis des Kapitalismus seien, die letzten Orte, wo sich dieser noch ex negativo seines Wertgesetzes versichern konnte. Nur hier würde der Glaube an die bestimmende Macht des Tauschwerts der Ware noch aufrechterhalten.
Baudrillard wischte all dies beiseite, indem er das materialistische Credo, den Glauben an die durch die Produktion bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisse, durch seinen berühmtesten Begriff, jenen der Simulation, zu einem Schauspiel erklärte. Ein Schauspiel, das immer noch so tat, als handle es von den Grundlagen der gegenwärtigen Unterwerfungsverhältnisse; ein Schattentheater, das nur die allgemeine Beliebigkeit maskierte, in der alles, Arbeit, Produktion, Sexualität, zu einem Austausch von Zeichen geworden ist – zum flottierenden, durch keine Realität fixierten Zeichen, wie das an den Börsen flottierende Geld.
Darin konnten wir uns gut wieder erkennen, korrespondierte es doch genau mit unserem Lebensgefühl, nur Nachspielende zu sein, Figuren in einer historischen Wiederkehr, die nicht nur die Tragödie, sondern auch die Farce längst hinter sich gelassen hat.
Das war die große Zeit des Jean Baudrillard und seiner bunten Zeichenwelt. Damals, Mitte der Achtzigerjahre, als ein avancierter Wiener Universitätsdozent die streikenden Studenten aufforderte, sie sollten von ihren Forderungen absehen und nur um des Streiks willen streiken. Solches, hieß es dazu bei Baudrillard, sei die „aktuelle Wahrheit des Kampfes“: ein Kampf ohne Motivation, ohne Ziel, ohne Forderungen.
Denn ein Entkommen aus der kapitalistischen Zeichenlogik gäbe es nicht, indem man neue Bedeutungen produziere, sondern nur indem man leere Zeichen setze. Diese durch keinen Sinn aufgefüllten Gesten seien das einzig verbliebene „Wahre“. In ihrer Sinnlosigkeit würden sie die vorherrschende Sinnlosigkeit beschleunigen und radikalisieren. So blieb die Störung die letzte Form des Aufbegehrens. „Cool-Killer oder der Aufstand der Zeichen“ hieß der Schlüsseltext, der die subversive Kraft der sinnlosen, anonymen Graffiti in New York feierte.
Baudrillards spätere Einlassungen, seien es jene zum 11. September oder zum ersten Golfkrieg, die er nochmals zur Bekräftigung seiner These von der Hyperrealität machte, fanden keinen großen Nachhall mehr. Denn sie formulierten nicht mehr die aktuellen Bedürfnisse.
Heute aber, wo Jean Baudrillard kürzlich in Paris verstorben ist, sollte man sich daran erinnern, dass er mehr hinterlassen hat als die Übersetzung des Lebensgefühls einer Generation in Theorie. In seinem ersten Buch, „Das System der Dinge“, lieferte er eine Analyse alltäglicher Gebrauchsgegenstände.
Damals, das Buch erschien in Frankreich 1968, sah er bereits die zentrale gesellschaftliche Praxis im Konsum und nicht mehr in der Produktion: „Heute werden alle Leidenschaften, Wünsche, Beziehungen zu Zeichen und Objekten abstrahiert oder materialisiert, um gekauft und konsumiert zu werden.“ Selbst die heute grundlegenden Effekte der Verwandlung von Waren in Marken, die dazu dienen, affektive Konnotationen zu mobilisieren, wird hier bereits abgehandelt.
Kurz – die bestimmende Form, in der der Kapitalismus heute funktioniert, findet sich hier bereits beschrieben. „Das System der Dinge“ ist eine Theorie des heutigen Kulturkapitalismus avant la lettre. Es ist dieses Buch des Jean Baudrillard, das man heute nochmals lesen sollte.
ISOLDE CHARIM