themenläden und andere clubs: Afternooning ist der neueste Trend
Der Mai macht’s neu
Nun ist es doch noch Frühling geworden. Das aber ändert leider nichts an der unbefriedigenden Ausgehsituation. Langsam versteht man sogar jene Menschen, die man früher dafür verachtete, wenn sie so nebenher sagten: „Ich gehe ja gar nicht mehr aus.“
Allein, der Drang ist noch da. Aber wohin mit sich? Wo kann man noch mit einem Getränk in der Hand bequem herumstehen und darüber reden, dass niemand mehr über Big Brother redet oder man nirgendwo mehr hingehen kann? Der letzte Schrei, die Pink-Slip-Partys, diese unkonventionellen Kontaktbörsen für frisch entlassene Ex-dotcom-Beschäftige, bleibt unsereinem ja verschlossen. Cocooning ist gut, aber keine Lösung. Bleibt nur das Afternooning.
Die Philosophie dahinter ist denkbar einfach. Afternooning bedeutet nichts anderes, als sich nachmittags so total zu verausgaben, dass man schon frühabends wohlig erfüllt ins Bett sinken kann. Dieser brandneue Trend wurde am langen 1.-Mai-Wochenende im Szenebezirk Kreuzberg erfunden.
Es war so: Schon zwei Tage vor dem Tag der Arbeit kreisten Hubschrauber langsam über den Dächern und vermittelten den Bewohnern ein interessant authentisches Ghettofeeling. Also raus aus dem Ghetto und rein in die friedliche Maienluft des Treptower Parks. Dort, wo es noch brave Bürger gibt, die vor verkohlten Rostbratwürsten Schlange stehen; dort, wo vorm Gasthaus Zenner zur Feier des Tages eine Schlagerbühne aufgebaut ist und bewährte Melodien wie „Tulpen aus Amsterdam“ und „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ im vereinheitlichten Schlagertechnobeat weit aufs Wasser zu den verbissenen Ruderern hinausgetragen werden.
Wieder zurück in Kreuzberg, ergibt sich ein anderes grünes Maienbild: Oberhavelländische Kohortenführerinnen verharren gramgebeugt über sauber eingeschweißten Kreuzberger Stadtplänen und vollziehen mit ihren Wannenkolonnen sinnlose U-Turns. Aus einem Eckhaus der Naunynstraße beschallt Fidel Castro die revolutionären Massen. Menschen klären sich per Mobiltelefon über die Straßenlage auf. Alles ist in Bewegung. So bunt ist Berlin. Das kulinarische Angebot auf dem Mariannenplatzfest ist armselig wie nie, die Bands auf der Bühne scheußlich wie immer.
Erst als das Fest jäh von entfesselten Uniformierten gestürmt wird, kommt Leben in die Veranstaltung. Wasserwerfer verkeilen sich beim Rückwärtsfahren wie große, schwerfällige, grob gepanzerte Insekten ineinander. Alles fliehet, rennet, rettet. Erinnerungen kommen auf.
Als man dann erschöpft von diesem aufregenden Nachmittag nach Hause will, wird man von der eifrigen Polizei genötigt, weiter auf den Straßen auszuharren. Nach einem solchen Tag vermisst selbst der verzogenste Club-Dandy keine brennenden Tresen oder geheime Elektronikclubs in Mitte mehr.
Nun ist leider nicht jeden Tag 1. Mai. Der sehr neue Trend des Afternooning muss wie ein Pflänzchen erst noch gezogen und gehegt werden, damit er zur vollen Blüte kommt. Zum Glück gibt es noch die Baumblüte in Werder, die Buga in Potsdam und die Fête de la Musique! Wer solche Gruselveranstaltungen einen Nachmittag lang durchsteht, kennt danach keinen Nachtlebenzwang mehr!
CHRISTIANE RÖSINGER
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