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taz-adventskalender: wortwörtlich berlinEin psychiatrisches Krankenhaus

Ingeborg Bachmann: „Ein Ort für Zufälle“. Mit Illustrationen von Günter Grass, Wagenbach Verlag, 1965, antiquarisch erhältlich.

Wer etwas über Berlin lesen will, hat viel Auswahl. Die schönsten Schriftstücke stellt die taz bis Weihnachten täglich vor. Und es geht nicht nur um Bücher!

Ein süßes Adventsplätzchen ist dieser Berlin-Text nicht, keiner der Texte Ingeborg Bachmanns kann als solches gelten. „Scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht“, heißt es 1964 bei der Verleihung des Büchner-Preises über das Werk der 1926 in Kärnten geborenen, für ihre Gedichte, Essays und Erzählungen ausgezeichneten Autorin. Der Text, den sie zu diesem Anlass statt einer Dankesrede vorträgt und der im Folgejahr unter dem Titel „Ein Ort für Zufälle“ erscheint, ist eine surreale Auseinandersetzung mit dem beschädigten, dem geteilten Berlin und der eigenen Krankheit.

Bachmann kommt 1963 – von ihrer gescheiterten Beziehung mit Max Frisch in Mitleidenschaft gezogen und eher labil – aus Rom in die Stadt. Zunächst wohnt sie als Stipendiatin im Gästehaus der Akademie der Künste am Hanseatenweg, später in Grunewald.

Berlin sei ein Ort, dem literarisch schwer beizukommen sei, erklärt Bachmann fast entschuldigend in der Vorrede des Text-Experiments „Ein Ort für Zufälle“, nur um sogleich klarzustellen: „Aber Darstellung verlangt Radikalisierung und kommt aus Nötigung.“

Radikal montiert die durch die Stadt genötigte Bachmann konkrete Anhaltspunkte („Es ist zehn Häuser nach Sarotti, es ist einige Blocks vor Schult­heiss, es ist fünf Ampeln weit von der Commerzbank, es ist nicht bei Berliner Kindl“) mit wahnhaften Elementen: „Die Straßen heben sich um fünfundvierzig Grad. (…) Potsdam ist mit allen Häusern in die Häuser von Tegel verrutscht, die Kiefern hängen mit allen Nadeln verkrallt ineinander.“

Nach und nach häufen sich die Indizien, bis deutlicher wird: Bachmanns Berlin ist ein psychiatrisches Krankenhaus, die Stadt ist im Krieg und durch die Teilung verrückt geworden und der Alkohol hat das Übrige getan. „Wer ungeladen in die Stadt abspringt, hier aussteigt, da überläuft, herübergeht, hinübergeht, der wird eingeliefert, geröntgt, vermessen und behandelt“. Wer nun mit solchen literarisch-grotesken Angstträumen wenig anfangen kann, mit denen Bachmann einerseits an Georg Büchners „Lenz“ anknüpft und andererseits ihren eigenen Todesarten-Zyklus vorbereitet, sei auf den zeitgeschichtlichen Wert des Textes verwiesen. „Im Kommen ist jetzt der Kreuzberg“, schreibt die Bachmann prognostisch im Jahr 1965. „(…) die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. (…) Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist.“

Doch „Ein Ort für Zufälle“ zeugt nicht gerade von Sympathie für das aufkeimende Kreuzberger Lebensgefühl und linken Dogmatismus: „Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evange­lienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, dazu dunkles Brot, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die langen Nächte.“

Getrunken wird aber auch andernorts ordentlich. Der Text torkelt durch Kneipen in Alt-Moabit und nennt die entscheidenden Bars und Clubs der 60er, die Bachmann wohl nicht nur von außen kannte: Rolf Edens Saloon in der Damaschkestraße, den Big Apple an der Bundesallee, die Schwulenbar Kleist-Kasino, die trans*-Kneipe Tabu, Chez-nous und einige mehr: „so geht das, doppelter Korn, großes Bier und immer doppelt. Die Spree und der Teltowkanal sind schon vollgelaufen mit Korn, die Havel schäumt bis obenhin vom Bier.“ – Nein, ein süßes Plätzchen ist „Ein Ort für Zufälle“ nicht, aber wer hat am vierten Advent denn überhaupt noch Lust auf Süßes?

Stefan Hunglinger

Berlin-Faktor: „Jetzt fliegt jede Minute ein Flugzeug durchs Zimmer.“

Taugt als Weihnachtsgeschenk für: Berliner*innen mit stabiler psychischer Konstitution.

Kunden, die das kauften, kauften auch: „Die Aeroplane in Brescia“ von Franz Kafka.

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