taz-adventskalender „24 stunden“ (10): 10 Uhr im Street College
Im Berliner Bildungsprojekt „Street College“ läuft so einiges anders als an Regelschulen. Vormittags wird hier gebastelt und gebüffelt – ohne Druck.
Stressig und chillig, hässlich und schön, herzerwärmend und abstoßend: Berlin hat viele Seiten, rund um die Uhr. In diesem Advent hangeln wir uns durch 24 Stunden Hauptstadtleben und verstecken jeden Tag aufs Neue 60 Minuten Berlin hinter unserem taz-berlin-Kalendertürchen. Heute: ab 10 Uhr im Street College.
Um 10 Uhr morgens sind an den meisten Berliner Schulen schon zwei Schulstunden ins Land gezogen. Die Glocke hat schon einige Male nervtötend gebimmelt, langsam schlurfen die Jugendlichen aus der Pause in ihre Klassenzimmer, quälen sich durch eine Doppelstunde Mathe. Im Street College in der Kreuzberger Graefestraße hingegen fängt der Tag um 10 Uhr gerade erst gemächlich an.
Ein paar Jugendliche haben sich schon im Gemeinschaftsraum im Untergeschoss eingefunden und beratschlagen gerade, welche Kurse sie heute belegen sollen. Zur Auswahl stehen einerseits klassische Schulfächer wie Englisch, Mathe oder Politik. Andererseits gibt es auch Angebote wie: Weihnachtsschmuck im Modeatelier basteln oder Musik im schallisolierten Studio produzieren.
Das Bildungsprojekt Street College ist ein Gegenentwurf zu den leistungsorientierten Regelschulen mit ihren großen Klassen, strengen Regeln und straffen Zeitplänen, an denen so viele Kinder und Jugendliche verzweifeln. Am Street College ist für alle Platz, die aus verschiedensten Gründen nicht mehr auf der Regelschule sein wollen oder können, weil sie zum Beispiel psychisch belastet sind oder Konzentrations- oder Suchtprobleme haben.
Hier steht selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Lernen im Vordergrund: Niemand wird gezwungen, frühmorgens zur ersten Stunde zu erscheinen, Noten gibt es keine. Welche Kurse am Street College angeboten werden, hängt auch von den Wünschen der Teilnehmenden ab. Neben Musikproduktion und Modedesign zählen aktuell auch Töpfern, Zeichnen, Film, Gesang und Schauspiel zum Kursangebot. Auf einer Magnettafel können die Studis die Optionen des Tages ablesen.
Schulstoff und Kreativität
Doch die Lernenden können auch hier Schritte auf dem Weg ins formalisierte Berufsleben machen. An diesem Tag finden etwa mündliche Prüfungen für die Berufsbildungsreife statt. Sieben Studierende haben dafür den klassischen Schulstoff gebüffelt. Dozierende und Sozialarbeiter:innen helfen den Prüflingen bei der Vorbereitung und beruhigen alle, die Prüfungsangst haben.
Währenddessen sitzt Dozent Matze Wermke im Modeatelier zwischen Plastikkisten voller Stoff und einigen halbbekleideten Schneiderbüsten mit zwei Jugendlichen an einem Tisch. Sie basteln Weihnachtsdekoration für den Weihnachtsbaum, der kurz vorher im Gemeinschaftsraum angeliefert wurde: Sterne aus flauschigem Chenilledraht, zusammengeklebt mit Heißkleber.
Nebenbei werkelt Wermke an einer Pappkiste herum. Sie soll ein anonymer Briefkasten für die Jugendlichen werden, in den bald Fragen zum Thema rund um das Thema Sexualität wandern können: „Das Thema ist für viele Jugendliche schambesetzt, deswegen können sie ihre Fragen jetzt einfach auf einen Zettel schreiben“, sagt er. Fein säuberlich beschriftet er den Deckel – „Sexualität“ –, dazu ein Pfeil neben den Deckelschlitz. Der Street-College-Studi Mohammed schreibt die arabische Übersetzung darunter, damit alle wissen, was gemeint ist.
Kreatives Arbeiten statt trockenem Schulstoff, miteinander scherzen statt förmlichem Sie im Unterricht – ein Vormittag im Street College hat wenig mit dem strengen Schulalltag zu tun. Statt schriller Schulglocke tönt aus einem Lautsprecher Rolf Zuckowski: „In der Weihnachtsbäckerei, gibt es manche Leckerei.“
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