taz-Sommerserie: „Sommer vorm Balkon“: Auf Zeitreise durch Berlin
43 Kilometer lief unser Autor für unsere Serie „Sommer vorm Balkon“ von Friedrichshagen nach Staaken, von der östlichsten zur westlichsten Stadtspitze.
Mein Smartphone zeigt 10:45 Uhr, der Himmel ist bewölkt. Ich laufe los in Richtung Stadtzentrum, oder vielmehr in die Himmelsrichtung, in der ich es vermute. Vom Fernsehturm oder den Hochhäusern am Potsdamer Platz sieht man hier natürlich noch nichts. Mein Ziel: die Louise-Schroeder-Siedlung in Staaken, das andere Ende von Berlin. Mein Weg dorthin wird mich einmal vom Südosten in den tiefsten Westen der Stadt führen: fünf Bezirke, 15 Ortsteile, 43 Kilometer. Eine echte Wanderung durch Berlin.
So richtig wandern war ich noch nie, bestens vorbereitet fühle ich mich aber trotzdem: Ich bin der Verfasser von Nachrichten wie „Mein Spaziergang ist ein bisschen ausgeartet und jetzt bin ich im Märkischen Viertel“. Außerdem habe ich Pflaster dabei, falls meine weißen Sneaker doch irgendwann mal scheuern sollten. Was kann da also schon schiefgehen? Los geht’s.
Der Fürstenwalder Damm ist gesäumt von stuckverzierten Häusern, die man in England wohl Townhouses nennen würde. Sogar Rosenbeete sind in den Vorgärten angelegt. Sieht alles eher Berlin-untypisch aus, bis auf die gelben Straßenbahnen. Das Erste, was ich von Köpenick sehe, ist das alte Kabelwerk. 1916 erbaut, wurden hier Starkstrom- und Telefonkabel produziert. Seit 1994 steht der riesige Klinkerkomplex leer. Die Industriegebäude der benachbarten Glanzfilmfabrik wurden schon zu teuren Wohnungen umgebaut. Generell fällt auf: Hier im Südosten liegen Industrieareale entweder brach oder wurden hochpreisig saniert. Ein Dazwischen scheint es nur selten zu geben.
Berlin ist großartig – auch und gerade im Sommer. Als Berlin-Redaktion wissen wir das natürlich. Und weil Zuhausebleiben in Coronazeiten ohnehin angesagt ist, machen wir da doch gern mal mit. Denn abseits der ausgetrampelten Touristenpfade und abseits der Pfade, die man selbst im Alltag geht, gibt es in dieser Stadt immer noch genug zu entdecken, sodass selbst Ureinwohner beeindruckt sind. Hoffen wir zumindest.
In loser Folge begeben wir uns in den nächsten Wochen auf Erkundungen, Stippvisiten und Spaziergänge. Nachlesen, was bereits erschienen ist, kann man unter taz.de/sommer-vorm-Balkon. (akl)
Endlich, der Fensehturm
In Oberschöneweide mache ich eine kurze Trinkpause bei einer Bäckerei. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft hat auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihren Campus. „Dass die Studenten seit Corona nicht mehr nach Schöneweide kommen, merke ich hier sehr – die Kundschaft fehlt“, erzählt mir die Verkäuferin mit pinkem Mund-Nasen-Schutz und fährt fort: „Aber wenn ich mir andere Länder angucke, denke ich nur: Hatten wir ein Glück!“ Sie legt ihre flache Hand auf die Brust, als wollte sie einmal beruhigt „puh“ sagen. Dann wendet sie sich schon dem nächsten Kunden zu.
Über die Treskowbrücke geht es nach Niederschöneweide. Die Sonne kommt raus, unter mir fahren Boote. Direkt am Spree-Ufer liegt die Bärenquellbrauerei, wieder so ein leer stehender Industriepalast. In weiter Ferne, endlich, ragt der Fernsehturm in den Himmel. Ein erstes Zeichen, dass ich nun wirklich auf dem Weg in die Stadt bin.
Auf der Köpenicker Landstraße, die kurvenlos nach Baumschulenweg und Plänterwald führt, überlege ich, wer schon vor mir durch Berlin gewandert ist. Björk soll einmal barfuß von Tegel nach Kreuzberg gelaufen sein, meine Googlerecherche ist allerdings erfolglos, und ich ärgere mich, dass ich mir die Illusion genommen habe, ich könnte in die Fußstapfen eines Promis treten.
Vollbremsung in Kreuzberg
Aber David Bowie! „Where Are We Now“ ist doch ein Streifzug durch Berlin: „Had to get the train/ From Potsdamer Platz/ You never knew that/ That I could do that/ Just walking the dead“ beginnt Bowie sein Lied von 2013. Schon nach dem ersten Refrain bemerke ich: Bowie wandert zwar tatsächlich durch Berlin, vielmehr aber noch durch seine Erinnerungen. Die besungenen Orte – Bösebrücke, Nürnberger Straße, KaDeWe – sind Chiffren alter Zeiten. Und die Wanderung durch die Stadt wird zu einer Reise in die eigene Vergangenheit.
Aber apropos „Where Are We Now“: Wo zur Hölle bin ich gelandet? Im Niemandsland zwischen Niederschöneweide und Baumschulenweg steht ein Infokasten der Bundespolizei verloren am Straßenrand. Auf den Aushängen werden Personen öffentlich dazu aufgefordert, beschlagnahmte Gegenstände wieder abzuholen: Taschenmesser, Nagelschere, Klingen. Skurril, wer von den angesprochenen Personen sollte hier jemals zufällig vorbeikommen, inmitten der Gewerbebauten und Parkplätze? Auch auf den nächsten fünf Kilometern nach Treptow wird die Straße kaum lebendiger, ich laufe sie im Stechschritt.
Vollbremsung in Kreuzberg. Ich mache Mittagspause in einem kleinen vietnamesischen Restaurant. Die dichtbebauten Straßen des Wrangelkiezes sind voller Menschen, Hauseingänge übersät mit Tags. Größer könnte der Kontrast zum ruhigen Südosten Berlins nicht sein. Auch etwas anderes fällt auf: Zwar habe ich auf der Wanderung viele alte Gebäude gesehen. Für mich hat sich die Geschichte aber nirgendwo so sichtbar in den Stadtteil eingeschrieben wie in Kreuzberg. Die verschiedenen Zeit-Schichten zwischen leer und Luxus lassen sich hier mit Leichtigkeit ablesen.
Meine Wanderung ist ein Buch
Das beginnt schon bei den Altbaustraßenzügen: Die reihen sich hier nämlich nur deshalb so eng aneinander, weil viele Häuser in den 80er Jahren instandbesetzt und so vor dem Abriss bewahrt wurden. Andere Formen der Aneignung legen sich über die Gemäuer, etwa die vertikalen Schriftzüge der Grafitti-Crew Berlin Kidz. Direkt daneben zeigt ein Wandbild des Street-Art-Künstlers ROA drei Tiere, die tot vom Hausdach baumeln. Die Bilder des belgischen Künstlers sind mittlerweile überall dort zu finden, wo’s hip und teuer ist..
Die Stadt ist wie ein Buch, hat der französische Philosoph Henri Lefebvre gesagt. Ich will ihm recht geben: Kreuzberger Straßen sind ein Buch gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, durch das ich auf meiner Route langsam blättere. Meine Wanderung ist eine Reise durch die Geschichte Berlins geworden. Schneller werde ich erst wieder hinter dem Moritzplatz.
Ich habe die Mitte Berlins gefunden: Sie liegt an der Leipziger Straße, bei der Mall of Berlin. Genau 21,5 Kilometer bin ich bis hier hin gelaufen, die Hälfte meiner Strecke nach Staaken. 1897 wurde an dieser Stelle das Kaufhaus Wertheim erbaut. Dies galt nicht nur als schönstes Kaufhaus Deutschlands, es war auch eines der größten in Europa. 1943 von Bomben zerstört, beherbergten die leeren Tresorräume zwischen 1991 und 2005 den vielleicht berühmtesten Technoclub der Welt: den Tresor. Angesichts dieser ehrwürdigen Geschichte schmerzt der Anblick des 2014 eröffneten Passagen-Imitats gleich noch viel mehr.
Grammophon und Spitzdach
Ein Highlight ist der eher menschenleere Abschnitt zwischen Checkpoint Charlie, U-Bahnhof Stadtmitte und Potsdamer Platz aber ohnehin nicht. Die Souvenirshops und Touri-Pferdekutschen sind das einzige, das die Leute am Sonntag hierher zu locken scheint. Auf den langen Schotterwegen des Tiergarten merke ich zum ersten Mal meine Oberschenkel. Es ist 15 Uhr, die Sonne knallt vom mittlerweile wolkenlosen Himmel. Schnell eine kühle Mate holen, denke ich am Ernst-Reuter-Platz. Gar nicht so leicht. Den nächsten offenen Späti finde ich erst am monumental anmutenden Rathaus Charlottenburg.
In der nahe gelegenen Haubenbachstraße sind die Altbaufassaden gelb oder terrakottafarben gestrichen, dazwischen stehen kleine Häuser mit Spitzdach. Der rote Schriftzug des Märklin-Spielwarenladens sieht nicht zufällig so aus, als könnte er schon in Walter Benjamins „Berliner Kindheit um 1900“ beschrieben worden sein. Das Geschäft an der Ecke Wilmersdorfer Straße feierte 2019 sein 100-jähriges Bestehen. Dass mir auf der Kaiserdammbrücke dann auch noch zwei Menschen mit einem Grammophon entgegenkommen, wirkt fast schon inszeniert – in manchen Ecken Charlottenburgs scheint die Zeit angehalten worden zu sein.
Ich erreiche den Fürstenplatz, einen kleinen Park im dünner besiedelten Westend. „An sonnigen Tagen ist hier immer viel los“, sagt mir eine grauhaarige Frau, die sich zum Zeitungslesen in die Sonne gesetzt hat. „Aber wo in Berlin ist nicht viel los“, fragt sie lachend und erzählt: „Schon meine Mutter, die das Berlin der 20er Jahre erlebte, hat die Berliner stets als ausflugsfreudig beschrieben.“ Dann unterbricht sie sich selbst: „Aber ich will Sie nicht aufhalten, bis nach Staaken haben Sie ja noch ein paar Kilometer vor sich.“ Sie hat recht.
An Ende: Körperlich und überhaupt
Um 18 Uhr überquere ich die Havel. Der Blick auf Wälder und glitzerndes Wasser ist der idyllischste der ganzen Wanderung. In der Pichelsdorfer Straße in Wilhelmstadt laufe ich an Nagelstudios, Kneipen und Shisha-Bars vorbei. Noch einmal links abbiegen, dann kommt Staaken.
Vor den sieben- oder sechzehngeschossigen Wohnhäusern der Louise-Schroeder-Siedlung – benannt nach Berlins erster und bisher einziger Bürgermeisterin, die nach Otto Ostrowskis Rücktritt 1947 die Stadt für 17 Monate regierte – sitzen Anwohnende auf herausgestellten Stühlen und unterhalten sich. Ich frage ein paar Jugendliche, wie sie ihre Freizeit hier am liebsten verbringen. „Wir fahren zum Ku’damm“, antwortet das Mädchen im blauen Oberteil. Ihre Freundin ergänzt: „Mit dem M49 sind das von der Heerstraße nur 40 Minuten. Zum Alexanderplatz 35 Minuten mit der S-Bahn ab Spandau. Mit dem Regio 25 Minuten.“
Es sind die Fahrzeiten in ein anderes Berlin. Die Louise-Schroeder-Siedlung liegt am Ende des Straßenzuges, der vom Brandenburger Tor als Straße des 17. Juni, Bismarkstraße und Heerstraße zum Stadtrand führt. Die auf dem Abschnitt im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf lebenden Menschen verdienen gehören zu den überdurchschnittlich Gutverdienenden in Berlin – in der Louise-Schroeder-Siedlung, auf den letzten Kilometern derselben Straße, ist die Kinderarmut eine der größten der Stadt.
Es ist 20 Uhr. Ich bin am Ende – körperlich und geografisch. Für das Finale meiner Wanderung nehme ich noch einmal meine Kräfte zusammen: Ich will auf den 67 Meter hohen Hahneberg – entgegen der Empfehlung der Jugendlichen: „Man kann da nichts machen.“ Ich aber bin begeistert: Als ich oben ankomme, wird die Stadt vom goldenen Licht der Sonne geflutet. Meine Wanderroute kann ich bis zum Potsdamer Platz nachverfolgen. Hinter mir beginnen die Felder Brandenburgs. Am Ziel sind ein leichter Sonnenbrand, schlappe Beine und schmerzende Fußballen das Zeugnis von 43 Kilometern. Das war nicht nur eine Wanderung, sondern auch eine kleine Zeitreise.
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