taz-Serie Sekundarschule (Teil 2): Willkommen in der Sekundarschule
Mit vier siebten Klassen startet die neue Schule an der Skalitzer Straße. Auffällig ist: Viele Mädchen sind unter den Schülern
Noch nie habe er die Eröffnungsrede zu Beginn des Schuljahres vor so einem großen Kollegium gehalten, sagt Schulleiter Bernd Böttig bei der ersten Gesamtkonferenz seiner Lehrer am letzten Ferientag. Gut 60 Personen sitzen im Mehrzweckraum seiner Oberschule an der Skalitzer Straße. Fast 30 Jahre lang war Böttig hier Hauptschulleiter. Nun muss er sich umgewöhnen. Schulleiter bleibt der 61-Jährige zwar - aber seine Schule wird eine andere: Aus der Eberhard-Klein-Hauptschule nahe dem Schlesischen Tor in Kreuzberg wird mit der Schulreform eine Sekundarschule. Künftig sollen die SchülerInnen besser als bisher gefördert und möglichst viele von ihnen zum Abitur gebracht werden.
Dafür fusioniert die Klein-Schule mit einer weiteren Hauptschule: Die Carl-Friedrich-Zelter-Schule hatte bislang ihren Sitz an der Wilhelmstraße im westlichen Kreuzberg und galt mit ihrer Ausbildungsorientierung als eine der besten Hauptschulen Berlins. Es sind die Lehrkräfte von bisher zwei Schulen, die Böttig im Mehrzweckraum begrüßt. Er freue sich auf den Neubeginn, sagt der neue, alte Schulleiter. Es klingt ehrlich und herzlich.
Auch die Stimmung unter den LehrerInnen ist entspannt. Das war nicht immer so. Die ruhm- und erfolgsverwöhnte Zelter-Schule, 2007 als beste Hauptschule Berlins, 2009 als eine der besten in Deutschland ausgezeichnet, war wenig begeistert von der vom Bezirksamt beschlossenen Fusion mit der erheblich schlechter beleumundeten Klein-Schule. Es sei "Unsinn", ein Erfolgsmodell wie seine Schule zu schließen, hatte Zelter-Schulleiter Robert Hasse noch im Frühjahr geschimpft. Doch nun hat auch er die Herausforderung der Schulreform angenommen. Die neue Sekundarschule wird viele der Methoden und Erfahrungen der Zelter-Schule übernehmen. Der 44-jährige Hasse sitzt neben Bernd Böttig am Schulleitertischchen der neuen Schule und strahlt mit dem älteren Kollegen um die Wette.
Wenige Tage vorher sah sein Gesicht noch wesentlich weniger gelassen aus. Da stand Hasse vor seiner alten Schule an der Wilhelmstraße und beobachtete fassungslos, wie eine Handvoll junger Männer sich damit abmühte, das Inventar der Zelter-Schule an den neuen Standort zu bringen. Nicht einmal einen vernünftigen Schraubenzieher oder eine Sackkarre habe der Umzugstrupp dabei gehabt, schimpfte er da: "Werkzeug habe ich ihnen bei unserem Hausmeister besorgt!" Eigentlich hätte laut Vertrag der Umzug am Dienstagabend der letzten Ferienwoche abgeschlossen sein, hätten alle Möbel montiert an ihren Plätzen im neuen Sekundarschulhaus stehen müssen. Doch erst am Donnerstagabend erreicht der letzte Lastwagen den Schulhof an der Skalitzer Straße. Und auch am Tag der ersten Lehrerkonferenz sind längst nicht alle Möbel montiert, alle Kisten ausgepackt.
Doch am gestrigen Montag, am ersten Schultag des ersten Schuljahres der neuen Sekundarschule, Tag eins also nach der Schulreform, ficht das an der Skalitzer Straße offenbar niemanden an. Viel zu sehr sind alle gespannt auf das, was das Schuljahr bringt. Veränderungen werden tatsächlich schon am ersten Schultag sichtbar: Zum Beispiel, indem die sechs Stuhlreihen, die für die Begrüßungsveranstaltung der neuen Siebtklässler und ihrer Eltern nun im Mehrzweckraum aufgebaut sind, nicht ausreichen: So viele Eltern seien noch nie mit zur Einschulung gekommen, freut sich Johannes Neuwirth, der das LehrerInnenteam für die neuen siebten Klassen leitet. Schulleiter Böttig weist auf eine weitere Veränderung hin: Fast genau die Häfte der Neuen sind Mädchen. "Als Hauptschule hatten wir früher etwa 80 Prozent männliche Schüler", so Böttig. "Die Voraussetzungen sind super", lautet Hasses Fazit.
Vier Klassen mit je 18 bis 19 SchülerInnen kann die neue Sekundarschule eröffnen - das sind mehr Anmeldungen als erwartet. Und viele Eltern haben sich offenbar von den Veränderungsbemühungen der bisherigen Hauptschule anziehen lassen: Ihr sei die Schule von der Grundschule empfohlen worden, erzählt eine Mutter, die ihren jüngsten Sohn begleitet. Ihre älteren Kinder habe sie bisher lieber an der benachbarten Realschule angemeldet, die sie einst selbst besucht hat - und deren Standort im Zuge der Schulreform nun geschlossen wurde.
Ihre ältesten Söhne hätten schon die Eberhard-Klein-Schule besucht, erzählt eine andere Frau, Mutter von sechs Kindern. Einer davon studiere nun. "Doch zwischendurch, als es gar keine deutschen Kinder mehr hier gab, haben wir die Schule gemieden", sagt sie. Nun ist sie mit ihrem Jüngsten wieder da.
Die Klassenräume der ersten SekundarschülerInnen leuchten sauber, über die Ferien hat der Hausmeister sie frisch gestrichen. Kennenlernen steht am ersten Schultag in den neuen Klassen auf dem Programm. Wie unterschiedlich die Schüler der neuen integrierten Oberschulform sind, wird in Johannes Neuwirths Klasse schon in der Begrüßungsrunde klar: Suheila* und Mevlüde etwa können kaum genug Deutsch, um einfache Fragen zu verstehen und zu beantworten. Mohammeds Antworten sind sprachlich perfekt - inhaltlich und selbst mit seiner lässigen Körperhaltung aber scheint er seine Lehrer vor allem provozieren zu wollen. Neset und Egemen dagegen sind nicht nur schnell und pfiffig, sondern auch konzentriert und aufmerksam.
Um mit dieser Heterogenität umgehen zu können, haben alle siebten Klassen der neuen Sekundarschule zwei KlassenlehrerInnen. Dazu kommen noch Referendare, Sozialarbeiter und Sonderpädagogen. "Hervorragende Bedingungen für die Förderung Ihrer Kinder", hat Robert Hasse den Eltern bei der Eröffnung des Schuljahres versprochen: "Wir sind Experten für die Entwicklung individueller Bildungswege für Ihre Kinder mit all ihren Stärken und Schwächen." Auch wenn nicht alle Eltern und Kinder den Satz inhaltlich verstanden haben mögen - die darin steckende Haltung hat sich offenbar vermittelt. Nach der Einschulungsveranstaltung sind Schulleiter und LehrerInnen von Fragenden umringt. "Arbeiten Sie mit uns zusammen", hatte Hasse sich von den Eltern und Kindern gewünscht. Der Anfang schaut vielversprechend aus.
* alle Namen der SchülerInnen sind geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett