taz-Redaktion im Sperrbezirk: Der Tag der Bombentaz

1945 bombardierten die Alliierten das Zeitungsviertel in Berlin-Kreuzberg. 70 Jahre später muss eine 250-Kilo-Bombe entschärft werden.

Die Sprengmeister bereiten die Sprengung vor.

Die Sprengmeister bei der Arbeit. Screenshot: @polizeiberlin

BERLIN taz | Es ist Freitag, 14.22 Uhr und Bert Schulz, Chef der taz-Berlinredaktion, verlässt seinen Schreibtisch, läuft durch den Flur im dritten Stock des Rudi-Dutschke-Hauses zum Praktikantentisch. „Andreas“, sagt er, „geh doch mal kurz zur Baustelle rüber!“ Bauarbeiter haben ein paar hundert Meter entfernt eine Fliegerbombe gefunden. Standardtext, eine Praktikantenaufgabe. Feierabend.

Wenn in einem Hollywoodfilm eine Szene so unaufgeregt beginnt, dann wird es meistens gefährlich. 48 Stunden später, ab Sonntagmorgen, ist der Kampfmittelräumdienst im Einsatz, 250 Polizisten sichern das Viertel, 11.500 Menschen werden evakuiert.

Auch die taz-Redaktion ist betroffen. Die Belegschaft darf zu der Zeit, in der die Bombe entschärft werden soll, nicht die Redaktion betreten. Doch am Sonntag wird die Montagausgabe produziert. Wie soll das aber ohne Redaktionsräume gehen? Und wie evakuiert man eine Zeitung im Normalbetrieb? Wenn Sie diesen Text lesen, dann wissen Sie: Alles hat noch geklappt.

Die Bombe, die an diesem Tag in Berlin gefunden wird, stammt womöglich vom großen Angriff am 3. Februar 1945, wenige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Um 11.02 Uhr beginnt die erste Luftdivision der US-Luftwaffe ihre Attacke: Im Zentrum steht das Zeitungsviertel der deutschen Reichshauptstadt. Verlagshäuser und Druckereien haben hier ihren Sitz, daneben über 300 Industriefirmen, die in Kreuzbergs Kellern und Hinterhöfen Rüstungsgüter produzieren, Flugmotoren zum Beispiel, von BMW.

Bombenschlagzeilen bekomme ich auch ohne Witze hin, sagt der Auslandsredakteur

Bergung des Reliktes vom Februar 1945

Innerhalb einer Stunde werfen die Alliierten rund 2.300 Brand- und Sprengbomben ab. 958 Bomber der US-Luftwaffe sind im Einsatz, begleitet von 600 Jagdflugzeugen. Von der Südlichen Friedrichstadt im Zentrum Berlins bleibt so gut wie nichts übrig.

Heute haben die Bundesdruckerei hier ihren Sitz, die Welt, die Bild, die Deutsche Presse-Agentur. Auch die Redaktion der taz arbeitet seit 1989 hier. Ganz in der Nähe bereiten grüne Bagger derzeit einen Bauplatz vor, auf dem die taz bald ein neues Verlagshaus errichten möchte, für das Zeitungsviertel von morgen. Und es ist nur ein paar Meter von dieser Baustelle entfernt, dass die Bauarbeiter jene Bombe an diesem Freitagmorgen gefunden haben, die vermutlich ein Relikt jenes 3. Februar 1945 ist.

„Fliegerbombenalarm am Blumengroßmarkt. Bergung Sonntag. taz gesperrt von 9 bis 18 Uhr“, so steht es in der SMS, die Georg Löwisch am Freitagabend erhält. Der Chefredakteur der taz ist eigentlich gerade unterwegs zum Griechen, er hatte Appetit auf gegrilltes Lammfleisch.

Jetzt hat er noch 36 Stunden Zeit, um zu garantieren, dass am Montag eine Zeitung erscheint. Wo sollen die Redakteure am Sonntag sitzen? Wie erhalten sie Zugriff auf die taz-Server und das Redaktionssystem? Was ist, wenn der Strom und damit auch die Server ausfallen? Die Evakuierung beginnt. Die EDV ist alarmiert. Die Hamburg-Redaktion bietet ihre Räume an.

Geh jetzt bloß nicht ran

Dann gibt es die Frage, ob es möglich ist, die Belegschaft am Sonntag von zu Hause aus zuzuschalten. Technisch wäre das denkbar – aber hundert Prozent Homeoffice? Im Normalbetrieb? Viel zu riskant. Es gibt noch andere Optionen: Eine weniger aktuelle Montagausgabe, komplett vorproduziert am Samstag, wenn der Zugang zur Redaktion noch frei ist. Das hieße: mehr Hintergrund, weniger Nachrichten.

Berlin-Chef Bert Schulz hat Tocotronic-Karten. Der Sänger der Band, Dirk von Lowtzow, singt „Samstag ist Selbstmord“. Als am Freitagabend um 21.49 Uhr Schulz’ Mobiltelefon klingelt, steht der Hausjustiziar der taz, Franz von Wolffersdorff, neben ihm in der Menge. Bert, sagt er, geh jetzt bloß nicht ran. Georg Löwisch ist dran, der Chefredakteur. Natürlich arbeitet der Berlin-Chef ausnahmsweise am Samstag. Natürlich schafft die taz das.

Am Samstag früh beladen Kollegen aus der EDV-Abteilung eine Sackkarre mit taz-Computern. Sie transportieren sie mit dem Aufzug hinab, schieben sie über die Straße, dann installieren sie eine Notredaktion außerhalb des Sperrbezirks: In den Räumen von Le Monde diplomatique und in Büros des taz-Verlages entsteht so eine improvisierte Redaktion. Im dritten Stock des Dutschke-Hauses wartet Berlin-Chef Schulz an diesem Samstag auf ein Foto. Dann erst kann er die Seite „wegschießen“.

Zumachen also, loswerden, ab in die Korrektur. Es geht um die Geschichte eines Puppenbauers, im Berlin-Teil auf Seite 23. Im vierten Stockwerk sitzt Dirk Knipphals an der Kulturseite. Anja Krüger produziert einen Text über ein Ökohaus aus Müll, Harriet Wolff die Wahrheit. Enrico Ippolito macht die Seite 13 fertig. Auch die 14 wird vorproduziert. Am Sonntag wird nur noch der Küppersbusch reingeklinkt. Dann passt das schon.

Improvisierte Morgenkonferenz

Am Sonntagmorgen um 10 Uhr stehen 18 Linux-Rechner für Redakteure bereit, 5 Mac-Rechner für taz.de und die Repro, 6 sogenannte Zero Clients für Korrektur und Layout. Die Produktion ist gesichert.

Am Sonntagmorgen um 8.37 Uhr steht Charlotte Oberberg, 92 Jahre alt, vor ihrem Seniorenwohnhaus in Sichtweite der taz im Sperrgebiet. Das Deutsche Rote Kreuz wollte sie abholen, aber der Fahrer kommt nicht. Sie hat die zwei Goldringe ihrer Mutter angelegt, um den Hals trägt sie sämtliche Goldketten, die sie besitzt. Als am 3. Februar 1945 die Bomber kamen, verlor sie ihre Wohnung. „Heute“, sagt sie, „kommt vieles wieder hoch.“

Ein paar Meter weiter beginnt um 10 Uhr die improvisierte Morgenkonferenz. Arbeitstitel: #Bombentaz. 21 Kolleginnen und Kollegen sind da, die Stimmung ist gelöst. Es könnte ein lustiger Tag werden, denken viele. Unter besonderen Situationen war die taz immer schon stark.

Und dann diese Kalauervorlage mit der Bombe. Bombenstimmung, höhö! Das Inland schlägt vor, alle Überschriften heute bombig ausfallen zu lassen. „Wie wir lernten, die Bombe zu lieben!“ Oder: „Merkels Umfragewerte implodieren“. Ein Kollege aus der Auslandsredaktion, verboten-Alterspräsident Georg Baltissen, sagt: „Ein paar Bombenschlagzeilen bekomme ich auch ohne Witze hin.“

Räumung des Ausweichquartiers

Aber was, wenn das Ding dann wirklich hochgeht? In München und Göttingen ist so etwas schon einmal passiert. Und ist die Sache mit der Bombe, auch wenn doch allenthalben noch Blindgänger gefunden werden, nicht eine ernste Angelegenheit?

Der Seite-1-Redakteur schlägt vor, damit aufzumachen. Viel zu selbstverliebt, sagt ein anderer. Aber nicht, wenn wir es gescheit kommentieren, meint eine Dritte: 70 Jahre nach dem Krieg haben wir immer noch mit Bomben zu kämpfen? Müssen wir nicht auch an Gerda Oberberger denken, die 92-jährige Dame aus dem Seniorenwohnhaus? Am Ende bekommt Gerda Oberberger 21 Zeilen auf der Seite sechs, einschließlich dieser.

Dann wird die Montagausgabe gemacht, alles ist ruhig. Um 12.27 Uhr schrillt plötzlich eine Alarmsirene, ohrenbetäubend. Es ist kein Witz: draußen Bombenentschärfung, drinnen Feueralarm. Die Belegschaft der taz muss ihr Ausweichquartier räumen. Vier Minuten später, um 12.31 Uhr, zur Hauptproduktionszeit der taz, wird ihr Chefredakteur Georg Löwisch mit ausgestreckten Beinen auf einem kalten Bürgersteig in Berlin zwischen Kollegen sitzen und fragen: „Was machen wir auf der eins?“

Keine Bombe. Denn die haben die Sprengmeister am Ende entschärft. Und die taz ist auch fertig geworden – unter verschärften Bedingungen.

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