taz-Krimi: Die Asylanten kommen
■ Eine Fortsetzungsstory von Christine Grän / Teil eins: 127 Seelen, eine Schnapsfabrik und ein Coup
Das Dorf zählt 127 Seelen, Tendenz abnehmend. Die jungen Leute ziehen weg, daran ändern auch die bunten Blumenkästen an den netten Häusern nichts, die Disco mit Neonreklame und die Verbindungsstraße zur Autobahn. Das Dorfleben ist abgrundtief langweilig, das wissen die verbliebenen Jugendlichen, die sich allabends in der Disco treffen, außer montags, da ist geschlossen. Die Alten haben es besser, auch wenn sie nicht darüber nachdenken. Sie müssen keine weitreichenden Entscheidungen mehr treffen. Im „Goldenen Hirschen“ ist täglich geöffnet, und dort fließen Bier und dörfliche Gespräche im breiten, gemütlichen Dialekt. Stoff gibt es immer zwischen den Gesprächspausen: die EG-Agrarpolitik, Kohl und Politik, die heutige Jugend, die Dorfskandale, meist sexueller Natur. Alles ist überschaubar und gewissermaßen ordentich, die sozialen Strukturen transparent, der Dorftrottel gelitten, die Meinungen zu Gott und der Welt nur generationsbedingt variierend. So ist dieses Dorf, kein Klischee trifft daneben – bis hin zur italienischen Pizzastube, in der Mario Calutti nebst Clan das Funktionieren der multikulturellen Gesellschaft auf dem Lande repräsentiert. Der Dorfdichter hat seinen Platz am Stammtisch gefunden, neben Bürgermeister, Gemeinderat, Pfarrer, Lehrer, Apotheker und Arzt.
Der Stammtisch lenkt und kommentiert die Geschicke des Dorfes, so war es immer, und was immer war, kann nicht von Bösem sein. Man behält das Abnorme für sich oder flüstert allenfalls darüber. Der Arzt hat ein Verhältnis mit seiner Sprechstundenhilfe und die Tochter des Bürgermeisters ist unehelich schwanger, all das weiß man in diesem Dorf. Dieses Voneinanderwissen bedeutet nicht nur Schmach, sondern auch Geborgenheit, eine Art kollektiver Selbstbefriedigung des Gewissens. Für alle Fälle gibt es immer noch die Beichte.
Das Dorf zählt 127 katholische Seelen, den Pfarrer eingerechnet, und 53 Heiden. Die Bezeichnung ist ungenau, trifft jedoch das Dorfempfinden auf den Punkt. Heiden, das ist das Gegenteil von Heide, Scholle, Heimat. Heimat ist das Bewährte und Bekannte, das Liebgewonnene und Vertraute. Heimat ist das Stück, das mir gehört. Ganz zu schweigen von der prozentualen Bedrohung: Mein Gott, wer hat schon was gegen Mario Calutti einzuwenden, den netten Ausländer von nebenan?
Der ist in tiefster Seele treu,
Wer die Heimat liebt wie du.
Fontane, zitiert vom Dorfpoeten, eigentlich ein zugezogener Städter, doch sehr bemüht um Integration. Was man von den 53 Asylanten nicht behaupten kann. Zitat des Apothekers. Die Asylanten sind in der ehemaligen Schnapsbrennerei untergebracht, unter „menschenunwürdigen Bedingungen“, wie der Pfarrer sagt. Das ist es ja. Man hat nichts gegen Ausländer, auch nicht, wenn sie dunkelhäutig sind, fast schwarz sogar. Es sind die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen diese Menschen hausen müssen, die Afrikaner, Rumänen und Jugoslawen. Eine Schnapsfabrik, man stelle sich die hygienischen Verhältnisse vor!
Der Bürgermeister hat sofort die politische Initiative ergriffen und ein Protestschreiben an den Landrat verfaßt. Die Antwort läßt auf sich warten und fällt erwartungsgemäß unbefriedigend aus. Der Landrat schreibt an seinen lieben Parteifreund, daß die Unterbringung der Asylanten nur vorübergehender Natur sei, wie vorübergehend, wisse er allerdings auch nicht zu sagen, und im übrigen sei sie auf Weisung der Landesregierung geschehen, also (unter uns gesagt, lieber Parteifreund) nicht auf seinen Mist gewachsen.
Es war sozusagen ein Überraschungscoup. Bauer Hinrich, dem die Gebäude gehören, tut so, als habe er nicht gewußt, zu welchem Zweck man seine Ex-Brennerei angemietet habe. „Der Hinrich wird sich seine Ruine gewiß vergolden lassen“, sagt man am Stammtisch und schielt auf den Bauerntisch, wo sie in ihren klotzigen Schuhen hocken und bedächtig ihre Biergläser leeren. Der Hinrich hatte immer schon etwas Asoziales an sich. Seinem ersten Sohn soll er mit Schnaps getränkte Lappen gegeben haben, um ihn ruhig zu halten – und was ist daraus geworden? Der Dorftrottel. Die Frau des Bauern ist mit einem Vertreter durchgebrannt, auch diese Geschichte kennt man, sie hat das Dorf lange bewegt. Der zweite Sohn ist auch nicht ganz geraten, soll arbeitsscheu sein und sich rumtreiben. Das dörfliche Mitgefühl hielt sich in Grenzen, damals, als der Hinrich seine Schnapsbrennerei schließen mußte, nachdem ihm die Steuerfahndung auf den Leib gerückt war.
Jetzt macht er das große Geld auf Kosten des Dorfes, das ist Unrecht, so meinen sie alle. Manche denken es, manche sagen es, aber noch nicht laut, denn mit dem Hinrich war noch nie zu spaßen. Gut möglich, daß er aus schierer Bosheit und Geldgier gehandelt hat. Aus dem Gemeinderat dringen Gerüchte über horrende Summen, die der Hinrich für seine Bruchbude kassiert.
Der Pfarrer predigt Mitmenschlichkeit und Christenpflicht gegenüber ausländischen Mitbürgern. Was ja so nicht stimmt, wie man weiß, denn in der alten Brennerei hausen Asylanten. Die wollen zwar ran ans Eingemachte, aber ob sie das schaffen mit den neuen Ausländergesetzen, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Zum Schluß werden sie ja doch alle zurückgeschickt, meint der Apotheker und verflucht den „Hokuspokus auf Kosten der deutschen Bürger“. Da darf es einen doch nicht wundern, wenn nationale Hitzköpfe hier und da über die Stränge schlagen.
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