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szeneNetzwerken wie bei Kafka

Es ist ein Privileg, dieses umtriebige Leben, in dem wir durch die Berliner Kulturszene streifen und uns alle gegenseitig mit Herzblut beschmieren. Ja, ja. Irgendwann reicht’s dann aber, deshalb sind M. und ich einst am Silvesterabend ins Haus der Statistik am Berliner Alexanderplatz eingestiegen, um auf dem Dach fernab von allem ins neue Jahr zu feiern.

Wir klettern über Möbelberge, durch Fenster, überqueren Minenfelder aus Kot oder Müll. Endlich oben, lassen wir uns hinter einem riesigen L nieder und köpfen eine Flasche Sekt. Raketen explodieren vor uns auf Augenhöhe, die Welt ist weit weg und winzig klein. Darauf stoßen wir an und rücken näher zusammen, als es plötzlich hinter uns raschelt.

Ein junger Kerl nähert sich. „Moin“, sage ich. „Kann ich mich dazusetzen?“, fragt er. „Wenn du friedlich bist“, sagt M. „Klar! Ich heiße K.“ „M.“, sagt M. „Bist du ganz allein hier oben?“ K. seufzt und setzt sich. „Ich wollt’ eigentlich bei ’nem Freund feiern, aber na ja. Jetzt arbeite ich halt ’n bisschen?“ Wir spendieren ihm ein Glas Sekt. „Woran denn?“ „Ach, ich bin Autor.“ M. und ich schauen uns an. „Lyrik“, sagt K., „und ihr so?“

M. stürzt ihren Sekt runter und wir brauchen einen Moment, um die Realität dieser Situation anzuerkennen. „Autorin“, seufzt M. „Dito“, sage ich. „Ach was! Und was schreibt ihr?“ Wir glotzen ihn an. „Lyrik“, sagt M. nur. „Prosa“, sage ich und denke: Wow, die Kulturszene. You can run. But you can’t hide.

Mit Sektgläsern in der Hand stecken wir jetzt allen Ernstes in einem dieser Lesungsgespräche über Zeitschriften, Verlage, Stipendien und miserable Honorare. Auf dem Dach einer DDR-Ruine am Alexanderplatz. Zum Ende werden wie üblich Kontakte ausgetauscht, und als K. weiter Gedichte schreiben geht, öffnen wir vorzeitig die zweite Flasche und freuen uns, dass dieses Jahr gleich zu Ende geht.Maik Gerecke

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