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szene

VonChristian Rothenhagen

Das Sofa wurde geliefert, nach Christines Tod. Ich habe sie bei der Wohnungsauflösung besser kennengelernt. In ihrer Wohnung in Zehlendorf, in der ich zuvor nie war. Wir kannten uns nur kurz. Sie war einer dieser Menschen, die ich – da ich sie jetzt mehr kenne – als gute Freundin bezeichne.

Ab und an gehe ich an ihr Grab, bringe frische Blumen. Meist weiße Lilien. Stolz und schön. Wie Christine. Jetzt liege ich in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa, in Gedanken versunken. Mein Blick schweift durch das Zimmer. Der alte Putz zeigt Narben der Vergangenheit. Man sieht, wo der Stuck war, wo Leitungen, wo der Ofen stand. Daran kann ich mich noch gut erinnern.

Die freigelegte Wand ist ein schöner Kontrast zu den weißen Flügeltüren, den alten Dielen und den restlichen weißen Wänden. In der Ecke ein Bücherregal, darauf meine Wagenfeld-Lampe. Eine WG24. Meine Mutter hat sie mir vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt. Wunderschön steht sie da und wirft ein warmes Licht vom Regal auf die Wand.

Ich bin glücklich in diesem Moment. Langsam wird es dunkel draußen. In Berlin ist alles grauer im Winter. Ich bemerke ein paar Initiale an der Wand. Eingekratzt. Wer hier wohl gewohnt hat? Das Haus ist gut 120 Jahre alt, hat sicher viel gesehen. Vielleicht ein Liebespaar? Oder jemand, der sich im Krieg hier verstecken konnte? Mein Blick wandert weiter. Es ist jetzt dunkel und das einzige Licht im Raum kommt von der Stehlampe.

Schlagartig ist es vorbei mit der Ruhe, dem Entspanntsein. Irgendwo zwischen den eingeritzten Initialen, über deren Herkunft ich mir gerade noch Geschichten ausgemalt habe – ein Hakenkreuz. An meiner Wand. Knapp zehn Zentimeter groß. Ich fühle mich unwohl, verbinde mit einem Schlüssel die Enden. Jetzt sieht es aus wie ein Fenster. Ich werde es nie wieder nicht sehen. Die Wand wirkt trauriger als zuvor. Ich bin es auch.

 Christian Rothenhagen

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