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straight aus dem medienparkDie große Tierstory

Vincent, Victoria, Viky, Björne, Bolle und Bompa

Im Tier, das leuchtet ein, schlummert utopisches Potenzial. Das Tier bewahrt uns vor der instrumentellen Vernunft, vor der Rationalisierung aller Lebensbereiche, es schmeckt uns nicht nur gar sehr als Schnitzel, Steak und Gulasch am Feierabend, es bewahrt uns besonders auch als Haustier vorm immer gleichen Allerlei des allzu trüben Alltags. Mit dem Tier können wir kuscheln, es versteht uns immer, es tut lustige Dinge, die wir nur kaum verstehen, es braucht uns, widerspricht uns nie, und seine Charaktereigenschaften stören nicht, denn die können wir uns auch einfach ausdenken.

Vor diesem Hintergrund ist es auch gar nicht weiter verwunderlich, dass dem Tier im Leben der Berliner eine ganz besondere Rolle eingeräumt wird. Hier, im Kern Preußens, an der Wirkungsstätte Friedrichs des Großen, in der Stadt von Freiherr vom Stein, Alexander von Humboldt und Fürst Bismarck, in dieser kalten, funktionalen Stadt, brauchen die Bürger ganz besonders jenen Rest, der sich der Aufklärung entzieht: überflüssige Puschelwesen, für die es keinen vernünftigen Grund gibt. Auf dieses Bedürfnis hat sich auch die hiesige Journaille eingestellt.

Betrachtet man die lokale Berichterstattung der Berliner Presselandschaft, könnte sich leicht der Verdacht aufdrängen, in jeder Zeitung außer der taz sei ein Redakteur für Tierisches eingestellt. Letzte Woche zum Beispiel. Der unbestreitbare Höhepunkt in Sachen Tier, das Ereignis, das den Tierreporter aus dem Bett geholt haben muss, waren die kleinen Nasenbärchen Vincent und Victoria (Geburtsgewicht: 76 Gramm) aus dem Eberswalder Zoo. „Mit dem Leid auf beiden Seiten fing alles an“, titelt es im Hause Springer: Von der Mutter verstoßen wurden Vincent und Victoria, an einer Scheinschwangerschaft leidend war Hündin Viky, eine Chihuahua-Hundedame – dass die B.Z. behauptet, Viky sei neun Jahre alt, die Bild, sie sei schon zehn, lässt vermuten, hier waren zwei Tierredakteure am Werk. Jetzt hat die Hündin die Bärchen angenommen, und zwar in der Wohnung von Tierpflegerin Brigitte Schmiederer, 44. Kommentar: „Die Natur schreibt die schönsten Geschichten.“ So schön, um einen Tag darauf in einem Extrakasten (BILD berichtete) die Expertenmeinung des Biologen Ragnar Kühne nachzuschieben: „So etwas habe ich noch nie gehört.“

Björne, Bolle und Bompa gaben Anlass zur zweiten großen Tierstory mit Fortsetzung in der letzten Woche, die Geschichte dreier Babybären, „sie waren erst zehn Monate alt, klein und tapsig“. Nachts nahm sie der Wärter der Mutter fort und schoss ihnen ins Herz. Nicht mal ein Grab bekommen die Bären, „sie durften nicht leben“, trauert Springer. Der Grund: Tierpräparator Eric L. (34) zahlte dem schwedischen Zoo für die Bären 3.000 Mark.

Aber noch viel Unerfreulicheres, ja geradezu Tragisches gibt es von der Tierfront zu berichten: Frau an Hundeleine zu Tode geschleift, deutscher Löwe Marjan – deutsch, weil von Deutschland in den Siebzigern an Afghanistan verschenkt – im Zoo von Kabul schwer heruntergekommen und vom Hungertod bedroht.

Immer wieder gibt es, Sodom und Gomorrha, anrüchige Überschriften: Iris Geisler, o. J., aus Tempelhof, hat ihren Kater ausgemessen: „Und ich hab doch den längsten.“ Marion Eastwood, 45, lässt ihr Schwein Rachel, 3 Monate, im Bett schlafen. „Ein Schwein im Haus ersetzt den Ehemann.“ In der Elbe wurde aufgrund steigender Wasserqualität wieder ein vom Aussterben bedrohtes Neunauge entdeckt: „Sie saugen sich an Fischen fest, entziehen ihnen Blut und Körpersäfte als Nahrung.“

Und was macht die Konkurrenz? Auch am Berliner Kurier ist die größte Geschichte nicht vorbeigegangen: „Der Hund, der glaubt, er sei ’ne Nasenbären-Mama“. Des Weiteren gibt es einen Hasen zu verschenken: „Paule, das Mümmel-Monster“, „der King-Kong unter den Kaninchen“: 10 Kilo schwer und – fast – so breit (25 cm) wie hoch (40 cm, Ohren 15 cm extra), ausgesetzt im Mauerpark und inzwischen wohnhaft im Tierheim. Und auf Seite sieben titelt man: „Katzenjammer! Kein Zoo will Berlins süße Jaguar-Mädchen“.

Es ist ein echter Trost, im Zeitalter der fortschreitenden Entfremdung und Flexibilisierung so viel von Tieren lesen zu dürfen. Fehlen nur die Kochvorschläge für den Feierabend. Unser Vorschlag lautet: Zu jeder Tiergeschichte in Zukunft auch das passende Rezept. SUSANNE MESSMER

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