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Archiv-Artikel

strafplanet erde: wollen sie ein engel werden? von DIETRICH ZUR NEDDEN

Da ist es wieder, dieses brandige, gebrechliche Husten. Den Nachbarn kenne ich nur vom Hören. Er wohnt im Haus nebenan, da bin ich mir sicher, denn der über uns, der in Anbetracht der diffusen Akustik außerdem in Frage käme, ist verreist. Und abermals ein trocken rasselndes, tiefschichtig düsteres Husten, mit dem der Mann die nächtliche Stille unterminiert. Ich würde das Gebälfer als Besorgnis erregend bezeichnen, bringe aber nicht das Mitgefühl auf, mir seinetwegen Sorgen zu machen. Das Geräuschbeben durchs Mauerwerk vermag mein versteinertes Herz nicht zu erweichen. An Schlaf ist nicht zu denken.

Doch. Sogar an wenig anderes, seitdem neulich während des pünktlich praktizierten Frühlingsanfangsspaziergangs eine junge Dame mit güldenen Flügeln auf mich zukam: „Wollen Sie ein Engel werden?“ Verblüfft von dem Karriereangebot fand ich keine Antwort. Sie drückte mir ein Flugblatt in die Hand und flog davon: „Seien Sie ein Engel. Stiften Sie ein Bett“, stand drauf. Albernheiten schwirrten mir durch den Kopf: Soll ich’s Ihnen einpacken? Wohin soll ich es bringen? Im Stück oder in Scheiben? Endlich begriff ich den flott verunglückten Appell: „Auch Kirchentagsbesucher brauchen Schlaf.“

Demnächst sind sie hier. Der Deutsche Evangelische Kirchentag kehrt zurück in die Stadt seiner Gründung, in ein Bollwerk des Protestantismus. Chorsänger in Maulsperrenoptik, ins Gähnen geraten, sind auf der Vorderseite des Flugblatts abgebildet. Mir fällt ein Lied ein: „Ein feste Burg ist unser Gott“, dessen Text ich nicht weiter kenne. Bedeutend mehr Beweglichkeit als wir drei, Gott, das Lied und ich, um nicht zu sagen Mega-Flexibilität demonstriert ein anderes: „Ein Schiff das sich Gemeinde nennt / fährt durch das Meer der Zeit“. Demnächst werden zahllose Schoner, Schaluppen, Lastkähne, Tanker, U-Boote und Fregatten hier anlegen. Musikalisch begrüßt vom Kirchentagssong, eine Koproduktion von Moses 5 (6,20) und Heinz-Rudolf Kunze: „Wenn dein Kind dich morgen fragt, morgen nacht in deinem Traum, warum hast du dir vorgenommen, niemals Kinder zu bekommen?“ Wusste man vielleicht längst, dass Lutheraner auch über inquisitorisches Talent verfügen, aber diese mutterschaftsverherrlichenden Zeilen sind doch besonders apart. Die Schädelschraube dreht weiter: „Glaubst du, dass du alles bist, gib mir Leben, gib mir Raum …“

Womit wir zurück im Gästebettenparadies sind. Im Kleingedruckten auf der Rückseite des Flugblatts kehrt noble Großzügigkeit ein. Ich brauche „kein Christ zu sein“, wenn ich Gäste aufnehme: „Sie gehen keine weiteren Verpflichtungen ein.“ Also keine Zwangstaufe oder dergleichen. Die Gäste betreffend kann ich „Wünsche/Einschränkungen“ vermerken. Nicht ich, aber womöglich mein Nachbar, wer weiß?, würde eintragen „zehn scharfe Weiber, möglichst Negerinnen“. Fies. Abscheulich. Und absolut nutzlos. Man darf nämlich, das ist in Miniaturschriftgröße ergänzt, „bitte nur Wünsche/Einschränkungen angeben, die durch Ihre Wohnsituation bedingt sind“. Ich werde dem Nachbarn alles mal erläutern, wenn er aufwacht. Dann lernen wir uns auch endlich kennen. Von Engel zu Engel. Die Mission, glaub ich, hat begonnen.