strafplanet erde: musik, bis der arzt kommt von DIETRICH ZUR NEDDEN:
Ein’klich ist es ja eine Frechheit, eine Unverschämtheit geradezu, dass sie einem in der Apotheke ein Paket Papiertaschentücher mit dem Wechselgeld über die Theke schieben: als Geschenk, als Servicepoint-Aufmerksamkeit, als eines dieser abscheulichen „kleinen Dankeschöns“. Unverschämt ist es und beinahe schamlos angesichts dessen, was die Apotheker im Verbund mit Ärzteschaft und der Pharmaindustrie an Kohle einfahren. Und der Patient und Kunde kriegt ein Päckchen Papiertaschentücher! Freut sich vielleicht noch … So dachte ich kleinbürgerlich-wild und dann: Du kannst doch nicht fortwährend Fragen aus dem Gesundheitswesen diskutieren. Merkt doch keiner, fiel mir das Gegenargument gleich ein. Du bist der Einzige, dem das auffällt.
So taumelte ich zwischen Größen- und Kleinheitswahn an widerstreitenden Hypothesen vorbei. Und landete, man ahnt es, ganz unten beim Therapeuten. Nicht bei irgendeinem Therapeuten, sondern Charles Mingus seinem.
Mingus – für die Jüngeren unter uns – war ein hoch dekorierter Jazz-Bassist und einzigartiger Komponist, der zeitweise mit dermaßen schrecklichen Dämonen kämpfte, dass er sich in psychologische Behandlung begab. Nun entdeckte ich im Beiheft seiner Platte „The Black Saint and the Sinner Lady“ einen Begleittext, eine Art Vorwort, das von einem Edmund Pollock, „Clinical Psychologist“, unterzeichnet war.
Pollock wühlt professionell-einfühlsam im Innenleben des Musikers herum und schließt: „It must be emphasized that Mr. Mingus is not yet complete. He is still in a process of change and personal development. Hopefully the integration in society will keep pace with his. One must continue to expect more surprises from him.“ Wenn solche Sätze kein Indiz sind, dann weiß ich auch nicht.
Das sollte sich allgemein im Kunstbetrieb durchsetzen, stellte ich gleich den Antrag bei der Kommission für überflüssige Vorschläge: Dem Produkt wird die Interpretation des persönlichen Therapeuten beigeheftet. „Herr Grass bearbeitet in seinem jüngsten Buch ein Kindheitstrauma, das …“ Nein, nicht sehr komisch. „Monsieur Houllebecq hat in seinem Leben oft Liebe, Wärme und Sanftheit entbehrt. Deshalb kann er seine Gefühle nicht zeigen. Das treibt ihn zu Wunschfanta …“ Nein. So was von klischeehaft.
Nehmen wir die zweite CD zur Hand, die in den letzten Tagen reingekommen ist. Willie Nelson hat seine 127. oder 78. Platte gemacht. Sie heißt „The Great Divide“. Und da ist es jetzt im Vergleich zur Mingus-CD genau umgekehrt: kein Begleittext dabei außer den üblichen Danksagungen, dafür eine Serie von umwerfend schönen Nelson-Porträts im Beiheft.
Das Tertium Comparationis ist die von mir erst jetzt frisch ausgepackte Wiederveröffentlichung einer Platte, auf der Robert Mitchum Calypso-Songs singt, geniales Coverfoto und ein sehr eleganter Begleittext von Nick Toshes: „Mitchum was cool, before cool was cool.“
Ohne dass schon wieder der Arzt kommen muss, lässt sich diagnostizieren: Jede der drei Platten hat wundervolle magische Momente.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen