strafplanet erde: das schicksal, das ohrläppchen und der kannibale von DIETRICH ZUR NEDDEN :
„Cut!“ – Der letzte Drehtag war vorbei, abends wurde das übliche, halbwegs wilde Fest gefeiert. Ich war vielleicht nicht der Jüngste im Team, aber sogar nach so vielen Wochen war mir das oft extravagante Benehmen von Filmschauspielern wenig vertraut und ich war unschuldig genug, um als der Naivste gelten zu können.
Als handwerklich durchaus untalentierter Bühnenbauhelfer hatte ich an dem bizarren Film mitgearbeitet, der zuvor eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, als der Bundesminister des Inneren das zugesagte Geld nicht gezahlt hatte, wie es hieß, aufgrund einer Szene, in der ein Kunde zu einer Domina sagt: „Ich möchte Ihre Toilette sein.“ So was ist halt Geschmackssache. Am Ende der Party war ich vermutlich betrunken, sodass ich in schlanker Metaphorik jetzt von einem Filmriss sprechen müsste, aber einige notabene verschwommene Erinnerungsbilder sind vorhanden. Ich entsinne mich nicht genau, ob der männliche Hauptdarsteller tatsächlich begann, an meiner Ohrmuschel zu knabbern, ob es bei dem Versuch oder gar nur bei der Ankündigung blieb. So oder so eine Harmlosigkeit, selbst unter uns Pastorentöchtern, auf die ich aber mit einer Art stupender oder eher stupider Verlegenheit reagierte. Mein Abwehrverhalten damals war etwa so konsequent wie das des Bundesligisten Hannover 96 heute, also relativ unsortiert. Spießig zu wirken, ist das Letzte, was man in dem Alter will.
Seit diesem nicht besonders denkwürdigen Abend vor etwa zwanzig Jahren bin ich dem Filmschauspieler nie wieder begegnet. Dass er inzwischen in einigen A-Filmen Hollywoods gespielt hat (und sein Name nicht erst im Abspann auftaucht), außerdem offenbar nach wie vor mit Vorliebe in Vampir- und überhaupt Grusel- oder Horrorfilmen wie seinerzeit „Die Bucht der blutigen Bestien“ oder „Spermatomization“, ist mir jedoch keineswegs entgangen.
Als ich ihn vorgestern im Berlinale-Getümmel am Potsdamer Platz entdeckte, interpretierte ich diesen Zufall als Wink des Schicksals, ach wo, das Schicksal fuchtelte völlig enthemmt beidhändig in der festivalmäßig total zitternden Luft herum. Zugleich merkte ich, wie meine Ohrläppchen vibrierten, so wie es angewachsenen Ohrläppchen nur möglich ist. Nicht etwa wegen einer reichlich verspäteten Erotisierung, sondern weil in meiner Aktentasche ein Exposé für einen Splatter-Psychothriller steckte: „Der Schnäppchen jagende Kannibale im Swinger-Club“. Ein umständlicher Arbeitstitel für ein angesagtes Thema, der sofort klar machen sollte, worum es geht. Ohne auch nur die geringste Idee zu haben, wie ich jemanden von entsprechender Wichtigkeit finden könnte, dem ich es unter die Nase halten könnte, hatte ich das Manuskript eingepackt. Jetzt ratterte es in meinem Kleinhirn wie im CAPI-Control-Fenster meines Rechners: „Verbindung soll aufgebaut werden … Verbindung wird aufgebaut … Verbindung ist aufgebaut.“
Es dauerte etwas, bis er sich an mich erinnerte. Dann lud er mich generös zu der Party einer bedeutenden Filmproduktionsfirma ein. „Prima“, sagte ich, behutsam von DER CHANCE MEINES LEBENS träumend. Ob das Märchen wahr geworden ist, davon erzähle ich ein anderes Mal.