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Archiv-Artikel

strafplanet erde: bedarf an bedarf von DIETRICH ZUR NEDDEN

Am definitiv letzten Tag des Jahres muss man sich im kalten Herzen Mitteleuropas nicht die geringsten Sorgen machen, ob auch wirklich alle Rückblicke geschrieben, alle Schlussakkorde erklungen, ob sämtliche Bilder von medialer Bedeutung zusammengeschnitten und projeziert sind. Die Techniken funktionieren prächtig und nahezu störungsfrei. Spektrum und Spektakel des finalen „So war’s!“ sind als Quelle der kollektiven Augenblicksspeicherung unerschöpflich und immer interessant, die Spitzen sind allerdings bald im oszillierenden Grundrauschen wieder verschwunden, während im Basement chinesische Wanderarbeiter turnusgemäß längst zurückgekehrt sind von der Silvesterknallerherstellung zur Spielzeugproduktion.

Man mag auch nicht verzichten auf die Durchblicker, welche die Rückblicke kommentieren. Die Metaebene, so viel ist sicher, ist unsere leichteste Übung: Da macht man doch gern mit, während andere nach innen schauen, die Ohren zu- und den Mund einfach halten, um mal eine Weile darüber zu meditieren, ob die fünf bis sechs Sinne tatsächlich noch beieinander sind. Dafür nicht widerstandsfähig genug, riskiert man es, die gute alte Denkspirale der industrialisierten Romantik entlangzuwandeln, dreht am Rad der „Reflexion der Reflexion der Reflexion“ ad infinitum. Immer weiter, immer weiter …

Aber letztens hörte ich von einem, der einen kannte, der ihm von jemandem erzählt hatte, der wegen Überdrehung seiner Schädelschrauben und dadurch verursachter Schwindelgefühle an einem Schleudertrauma starb: „Nach fest kommt ab“, wie ein Warnhinweis der Installateurs-Innung lautet.

Also nichts da! Weder Ausklang, Ironiezwang noch Schwanengesang, sondern volle Wucht voraus. Was uns nach Ultimo erwartet, lässt sich so ziemlich voraussagen: Gleich, spätestens übermorgen, herrscht egalwech neu eines, nämlich Handlungsbedarf. Weil der Nachholbedarf enorm ist. Deshalb müssen und werden wir in diesen und anderen Bereichen Erklärungsbedarf anmelden, der sowohl Informationsbedarf als auch Diskussionsbedarf verlangt beziehungsweise voraussetzt beziehungsweise damit eng verknüpft ist.

Andererseits ist unstrittig Entscheidungsbedarf anzumahnen. Davon nicht unberührt bleibt der Orientierungsbedarf, dessen Ausmaß uns verlässliche demoskopische Reihenuntersuchungen klar vor Augen führen. Die wird man auch weiterhin vor dem Reformbedarf – die ersten Schritte in die richtige Richtung hin oder her – nicht verschließen können, der untrennbar mit dem Flexibilisierungsbedarf verbunden ist. Deshalb auf Eigenbedarf zu klagen, wäre – wie Fachleute versichern – fahrlässig, kontraproduktiv und Gift für das zarte Pflänzchen der Binnenkonjunktur. Dessen Frischwasserbedarf ist wie üblich nach menschlichem Ermessen nicht zu überschätzen, vom Finanzbedarf ganz zu schweigen, der sich proportional zum Gürtelengerschnallungsbedarf verhält. So circa im Frühjahr wäre der weitere Forschungsbedarf dann zu präzisieren.

Das alles wäre vollkommen in Ordnung, wenn nicht dann wieder jemand von vorne anfinge und wie jedes Jahr Handlungsbedarf konstatierte.