spielplätze (23) : Jubel in der linken Szenekneipe
Alle gucken Fußball. Wir auch. Bis zum Ende der WM berichtet die taz täglich live von den Berliner Spielplätzen. Heute: Deutschland–Italien im „Syndikat“.
Gegen Deutschland sein gehört hier zum guten Ton. Deshalb dreht der Barmann die Lautstärke runter, als die ersten Töne der Nationalhymne erklingen. Ballack und Co. bewegen stumm ihre Lippen, dazu kommt lässiger Ska aus den Boxen. Der junge Typ mit dunklen Locken, Basecap und „Halt’s Maul Deutschland“-Shirt setzt sich auf dem Hocker zurecht, eine Frau mit Flipflops nimmt einen Schluck und sagt: „Nee, jetzt reicht’s langsam mit Deutschland.“ Los geht’s.
Es gibt keinen besseren Ort, von der Niederlage der deutschen Mannschaft zu berichten, als das Syndikat in Neukölln. Die sympathische Kneipe, die von Ex-, Wieder- und Noch-Anarchos, Studenten und Nachbarn frequentiert wird, ist eine der letzten ihrer Art in Berlin. Die Wände sind revolutionsrot gestrichen, Aushänge über rechte Übergriffe machen bekannt, was Linke kaputtmacht, und das Schwarzbier heißt „Mord und Totschlag“.
Bei Bundesligaspielen sei es hier brechend voll, erzählt ein Gast. Jetzt, beim Deutschland-Spiel, gucken zwei Dutzend. Ein paar Minuten sind gespielt, da wälzt sich Klose nach einem Knöcheltritt auf dem Boden. „Ey, stell dich nicht so an“, murmelt eine Frau. Der Rastalockenträger neben ihr rollt sich eine Kippe. Das Fußballgucken macht Spaß an den abgewetzten Holztischen. Das tschechische Bier ist lecker und kühl. Auf dem Herren-Klo weht ein frischer Wind durchs Fenster, auf dem Damen-Klo gibt’s Tampons umsonst.
Hobbykommentatoren kommen schnell ins Gespräch. Jede Meinung wird tolerant akzeptiert, niemand meckert, wenn man sich laut über anderes unterhält. Im Syndikat nimmt man Fußball nicht wichtig, hier punktet man mit anderen Themen. Eine Tafel weist die jeweils angesagte Demo aus, darunter hat jemand mit Kreide ein Ton-Steine-Scherben-Zitat gekritzelt.
Plötzlich zieht Schneider von halbrechts ab, der Ball zischt knapp übers Tor. „Ja! Jaaa!! Ouuuuuuhh!!!“, brüllt ein pummeliger Mann mit Ohrring. Er tut das so laut, das man nicht weiß, ob er es ironisch meint oder ernst. Syndikat und Rest-Deutschland liegen an diesem Abend so weit auseinander wie nie. In dem ältlichen Fernseher singen die Fans, wer für Deutschland sei, solle aufstehen. Im Syndikat holt sich gerade ein Student einen Barhocker aus dem Nebenraum. Im Fernseher tragen Klinsmann und Löw taillierte Hemden, im Syndikat trägt man Muskelshirt mit Heavy-Metal-Aufdruck.
Das Spiel zieht sich, immer noch 0:0, trotzdem schmeißen die Neuköllner draußen Böller, weil Böllern im Kiez eine Freizeitbeschäftigung ist wie in anderen das Autowaschen. In der 72. Minute bekommt der „Halt’s Maul, Deutschland“-Junge Szenenapplaus. Er klettert auf seinen Hocker und bringt den Deckenventilator auf Touren. Dann hauen die Italiener den Deutschen zwei Tore rein. Die Hälfte der Gucker jubelt, doch fröhlich klingt es nicht. Sie jubeln nicht für, sondern gegen eine Mannschaft. Als die Kamera fassungslose Fans zeigt, ruft einer: „Jetzt habt ihr die ganzen doofen Hüte umsonst gekauft!“ ULRICH SCHULTE
Syndikat, Weisestr. 56. Preise: zwei Staropramen, ein „Mord und Totschlag“, zwei alkoholfreie Flens = 9 Euro