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Archiv-Artikel

sozialkunde Reformbewegungen in einer sich selbst ordnenden Welt

Die McKinseys und die Attackis haben mehr gemein, als es ihre Gegnerschaft vermuten lassen sollte

Die moderne Gesellschaft tritt, seit Karl Marx sie analysierte, als Widerspruch gegen sich selbst auf. Was das Kapital will, ist nicht das, was das Proletariat will, und umgekehrt. Marx sprach vom Klassenkampf und davon, dass eine Revolution notwendig sei. Die Soziologie wendet gegenüber dieser Analyse wenig später ein, dass sich die moderne Gesellschaft über den Widerspruch gegen sich selbst nicht etwa auf die Revolution zubewegt, sondern als das reproduziert, was sie ist. Sie ist bereits die Revolution, auf die Marx noch wartete, und Arbeiter ebenso wie Unternehmer, aber auch Konsumenten und Beamte, Professoren und Studenten, Priester und Gläubige haben an ihr teil.

Mit dieser Denkfigur sitzt die Soziologie bis heute zwischen allen Stühlen. Was sie weiß, will niemand wissen, weil es daran hindert, Stellung zu beziehen und die Dinge mitzubewegen.

Doch genau deswegen ist die Denkfigur notwendig. Die Soziologie verabschiedet sich von der Figur des Widerspruchs, wie sie Marx im Rückgriff auf Hegel verwendete. Sie verabschiedet sich jedoch auch von der aristokratischen Vorstellung der Antike, dass es nur darauf ankomme, angesichts einer ebenso unübersichtlichen wie unerfreulichen Umtriebigkeit der Menschen auf Normen der Gerechtigkeit („Jedem das Seine“) zu beharren. Und sie lässt die neuzeitliche, von Hobbes formulierte Vorstellung hinter sich, dass es im Kampf aller gegen alle entscheidend sei, entweder der Stärkere zu sein oder rechtzeitig die Bedingungen auszuhandeln („Gehorsam“), unter denen man von einem Stärkeren Schutz erhält.

Diese Vorstellungen sind jedoch bis heute aktuell. Sie bringen auf den Punkt, woran wir glauben, wenn wir uns der sozialen Ordnung vergewissern, in der wir leben möchten: Wir haben einen Sinn für Gerechtigkeit; wir wissen, wann es auf Gehorsam ankommt; und wir verlassen uns auf den Widerspruch, wenn es darum geht, herauszufinden, auf wessen Seite wir uns morgen befinden wollen. Die Soziologie beschreibt diese Positionen, aber sie teilt sie nicht. Sie hält sich raus und achtet auf etwas anderes.

Worauf sie achtet, kann das Beispiel der Reformbewegung deutlich machen. Diese Bewegung tritt in dem für die moderne Gesellschaft typischen Modus des Widerspruchs gegen sich selbst auf. In der einen Version arbeitet sie an der Transformation der alten Hierarchien in Netzwerke, und in der anderen Version an der Transformation der alten Machtpolitik in zivile Diskurse. Dass die beiden Versionen mehr miteinander gemeinsam haben, als es ihre Gegnerschaft vermuten lassen sollte, ist ein soziologische Beobachtung, die über das Selbstverständnis der Bewegungen hinausreicht, weil dieses wiederum davon lebt, den Gegensatz zu inszenieren und zu dramatisieren.

Wenn man sich die gegenwärtige Reformbewegung anschaut, sieht man auf der einen Seite die McKinseys jeglicher Provenienz und auf der anderen Seite die Attackis jeder Couleur. Die einen wie die anderen wenden sich gegen Bürokraten, allerdings aus zwei verschiedenen Richtungen. Erstere sehen die Bürokratie als Effizienzhindernis, letztere als Fassade der Macht. Die einen wie die anderen profitieren jedoch auch von der Bürokratie, denn für erstere ist sie der lukrative Auftraggeber, für letztere ein unverzichtbarer Themenlieferant. Und selbstverständlich brauchen die einen wie die anderen ihre eigene Bürokratie. Die Effizienzblaupausen der McKinseys sind ebenso abhängig von der Büroarbeit und ihren Signalen der Legitimität und Rationalität, wie es die Kampagnenpläne der Attackis sind.

Spätestens an diesem Punkt kippt daher die soziologische Analyse der Einheit der Differenz zweier auch gegeneinander antretender Reformbewegungen um in das Porträt einer Gesellschaft, die den Unterschied braucht, um sich selber zu reformieren. Die Powerpointfolien der einen und die Slogans der anderen verstellen den Blick auf eine Gesellschaft, in der die Bürokratie angetreten ist, sich selber zu reformieren. Wenn der soziologische Blick nicht täuscht, geht es um ein einziges Thema: die Wiedereinbettung der Büros von Unternehmen, Behörden, Schulen, Kirchen und Armeen in eine Gesellschaft, deren zentrale Wissensfigur nicht mehr die Garantie der Routine in einer unordentlichen Welt, sondern die Mobilisierung von Aufmerksamkeit in einer sich überraschenderweise immer wieder selbst ordnenden Welt ist. DIRK BAECKER

Der Autor, Soziologe in Witten/Herdecke, schreibt an dieser Stelle von nun an über soziologische Themen – immer am dritten Dienstag des Monats