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Archiv-Artikel

sozialkunde Wenn Tänzer Engel und Soziologen zugleich sind

Das Tanzstück „Revolver“ von VA Wölfls Ensemble Neuer Tanz beweist, dass der Tanz manchmal die beste Soziologie ist

Manchmal ist der Tanz die bessere Soziologie. Denn er kann nicht nur Beobachtungen sozialer Strukturen auf den Punkt bringen, sondern zugleich darauf reflektieren, wer da eigentlich was aus welcher Position beobachtet.

„Angels fear to tread where fools rush in“ ist ein Satz von William Blake, dessen zweite Hälfte den Refrain eines Tanzstückes bildet, das VA Wölfls Ensemble Neuer Tanz unter dem Titel „Revolver“ im vergangenen Herbst in Zürich uraufgeführt hat und das seither in Düsseldorf und Frankfurt am Main zu sehen war. Bei Wölfl wird daraus: „Fools rush in, but I am in love with you.“ Die Engel bleiben ungesagt, können jedoch mitgehört werden und bleiben während des ganzen Stücks das eigentliche Thema, während immer deutlicher wird, dass Liebesgeschichten, Liebessehnsüchte kein Ersatz für sie sind.

Selten wurde die hilflose Wut angesichts des Einmarsches der Amerikaner im Irak überzeugender zum Ausdruck gebracht als durch dieses Tanzstück. Das Publikum schaut in einen gleißend weiß erleuchteten Bühnenraum, der fast zur Gänze von zwei weißen, aufblasbaren Panzern aus Stoff eingenommen wird, deren Rohre auf das Publikum zeigen und von denen einer, schräg auf den anderen gestellt, mithilfe von Luftpumpen zu einem leichten Pulsieren gebracht wird. Vor diesen Panzern feiert Wölfls Truppe minutenlang eine Rockparty, die ausgelassen beginnt und immer stereotyper wird, bis die Tänzer den Panzern die Luft rauslassen, weiße Teppiche über sie rollen und der Rest des knapp zweistündigen Stücks auf einem leicht ausgebeulten, zum Tanzen gar nicht mehr recht geeigneten Boden stattfindet, unter dem man bis zum Schluss die Panzer weiß. Als reiche diese Behinderung der Tänzer nicht, werden später noch einige Eimer mit gelben Tennisbällen über den Bühnenraum ausgeschüttet, sodass die Tänzer keinen Schritt mehr machen können, ohne aufpassen zu müssen, wo sie gehen und stehen.

Und was passiert in diesem Stück? Junge Frauen probieren unglückliche, aber strenge Haltungen aus. Ein Tänzer spielt den Rocksänger und wiederholt seinen Refrain zu einem Geschehen, das umso rätselhafter wird, je mehr sich die Elemente herausschälen, aus denen es besteht. Junge Männer betreten die Bühne und treten wieder ab, ohne einen Unterschied zu machen. Überhaupt: Eines der wichtigsten Elemente des Stücks ist das dauernde Anprobieren und Umziehen des ganzen Ensembles direkt vor der ersten Reihe der Zuschauertribüne, als gelte es laufend, sich vorzubereiten und einzustellen auf einen Eingriff ins Geschehen auf der Bühne, der dann aber allenfalls stattfindet, um herauszufinden, ob es jemanden gibt, der sich davon beeindrucken lässt.

Zwischendurch wird auf die gesamte Rückwand des Bühnenraums ein Abfangjäger projiziert, mitten im Flug auf ein namenloses Ziel, leicht torkelnd, zugleich bedrohlich und ziellos in seiner begrifflosen Ferne zu einem möglichen Geschehen.

Die Party findet ihren Höhepunkt in einer ausgelassenen, lautlosen Prügelei, in der in Zweier- und Dreierkonstellationen ausprobiert wird, wie „chirurgisch präzise“ der andere zu treffen ist, und alle Beteiligten einschließlich der Opfer einen Mordsspaß aneinander haben. Die Szene oszilliert zwischen Assoziationen zu David Finchers Film „Fight Club“ und Bildern Abu Ghraibs, ohne das eine oder andere wirklich zu meinen.

Denn das Thema dieses Stückes ist eben nicht die Verurteilung der Amerikaner, sondern sind wir selbst, die wir zuschauen, wie ein Krieg um die „neue Weltordnung“ geführt wird, von der wir profitieren, während wir nicht wissen, worauf sie hinausläuft. Und wenn die militärische Gewalt der Amerikaner den Grundstein einer demokratischen Ordnung legt, die mit Freiheit droht und Freiheit erzwingt? Was ist das für eine Gewalt, wenn wir uns nicht aus ihr herausdividieren können? Was ist das für eine Ordnung, wenn sie dort Märkte schafft, wo bislang das Gesetz der Patriarchen herrscht? Und was ist das für eine Freiheit, wenn die einen schon wissen, was sie darunter verstehen, und die anderen dies, ohne wirklich eine Wahl zu haben, erst noch äußerst mühsam herausfinden müssen?

VA Wölfls „Revolver“ stellt diese Fragen nicht und beantwortet sie nicht. Aber dieses Stück schafft Raum für sie, weil es neben dem Urteil auch die Urteilenden vorführt. Und es tut dies als Tanz, in dem die Zeile „and I am in love with you“ immer unbezweifelbarer wird. Denn natürlich sind die Tänzer allesamt Engel, einer verführerischer in seinem Zögern, seiner Furcht, seinem Hinschauen als der andere. Allerdings singen sie niemandes Loblied mehr, am wenigsten ihr eigenes. Ungläubig, aber genau, konzentrieren sie sich auf die Beobachtung ihrer eigenen Zustände. DIRK BAECKER

Der Autor, Soziologe in Witten/Herdecke, schreibt an dieser Stelle regelmäßig über soziologische Themen – immer am dritten Dienstag eines Monats