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Archiv-Artikel

schwabinger krawall: heilsamer schnackler von MICHAEL SAILER

Bis vor zwei Wochen hätte Herr Hammler auf die Frage, was eine Zyste ist, geantwortet, es handle sich dabei wohl um eine entfernte weibliche Verwandte. Dann war er beim Zahnarzt und hat erfahren, dass sich in seinem eigenen Oberkiefer eine Zyste befinde, was von einer alten Zahnwurzel herrühre und umgehend zu entfernen sei, auch deswegen, weil so was aufs Gemüt schlagen und ihm die Laune verhageln könne.

Seiner Frau hat Herr Hammler erklärt, er habe von einer solchen Zyste noch nie etwas gehört und gespürt und glaube den modernen Ärzten kein Wort. Wenn da eine Zyste sei, sei er bislang gut damit zurechtgekommen und gedenke dies auch weiterhin zu tun. Seine Frau hat gemeint, ihr sei schon länger aufgefallen, dass er bärbeißig und unmutig sei, andererseits könne sie sich nicht erinnern, dass er jemals anders gewesen wäre, also sei ihr die Sache egal; er könne mit seiner Gesundheit tun, was er wolle.

Dann hat Herr Hammler aber plötzlich Zahnschmerzen bekommen, unglücklicherweise am Sonntagnachmittag, wo kein Zahnarzt der Welt eine Sprechstunde hat. Seine Frau hat ihm Kamillentee gekocht, aber die heiße Flüssigkeit sorgte in Herrn Hammlers Mund für einen derartigen Schmerzschub, dass er sie sofort wieder ausgespuckt hat, woraufhin seine Frau vorschlug, er solle es doch mit etwas Kaltem probieren. Herr Hammler hat sich eine halbe Stunde lang eine Bierflasche an die Backe gehalten und dann beschlossen, es sei sinnvoller, das Bier auszutrinken, bevor es vollends warm werde, und weil er von dem ganzen Schmerzzinnober einen Riesendurst hatte, hat er die Flasche in einem Zug ausgetrunken und gewartet, was sich tut. Die Schmerzen sind jedoch von dem Bier nur noch schlimmer geworden, also hat Herr Hammler dem Gejammer seiner Frau nachgegeben und beschlossen, in die Zahnklinik zu fahren.

Dummerweise hat er inzwischen von dem hastig hineingetrunkenen Bier einen fürchterlichen Schluckauf bekommen. Das sei doch wurst, hat seine Frau gesagt, die Ärzte hätten dagegen bestimmt ein Mittel, und sie werde jetzt ein Taxi rufen. Das komme überhaupt nicht in Frage, hat Herr Hammler gesagt, unterbrochen von wilden Zuckungen und schrecklichen Kehllauten. Er werde das Haus nicht verlassen, bevor er nicht in der Lage sei, aufrecht zu stehen und normal zu sprechen. Da könne er lange warten, sagte Frau Hammler. Sie habe von einem Japaner gelesen, der 30 Jahre lang geschnackelt habe, und so lange mache sie dieses Theater auf keinen Fall mit.

„Sie könne ihn mal …“, hat Herr Hammler noch gebrüllt, dann ein lautes „Hööööp!“ ausgestoßen und ist, vom Schnackler durchgeschüttelt, mit dem Hinterkopf gegen das Gasrohr im Flur geschlagen, nach vorne zusammengeklappt und hat sich an der Türklinke den Schneidezahn ausgeschlagen, woraufhin der Schmerz mit einem Schlag vorbei war.

Seine Frau hat darauf bestanden, dass er trotzdem zum Zahnarzt geht, und seitdem sitzt Herr Hammler auf seinem Sofa, lässt in unregelmäßigen Abständen ein „Börp!“ oder „Hupp!“ ertönen und sieht, wenn er das resignierte Kopfschütteln seiner Frau mit einem verschmitzten Grinsen bedenkt, fast ein bisschen japanisch aus.