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Archiv-Artikel

schurians runde welten Marcel Reifs feuchter Atem

“Ich habe manchmal das Gefühl, Leonardo Da Vinci zu sein – ich muss immer wieder neue Dinge erfinden.“

(Massimo Morales, noch Fortuna Düsseldorf)

Marcel Reif trug an diesem Fußballabend einen hellen Breitcordanzug und fünfzehn Kilo Übergewicht. Zur Feier des Tages hatte er seinen Dreitagebart abgenommen und den Schopf rötlich blondiert. Wäre er nicht so geschwankt, mir wäre aufgefallen, das Reif zehn Zentimeter gewachsen war, nur noch Französisch sprach und aus Belgien kam. Ich hatte aber andere Sorgen: Mein Bein zuckte, die Muskelstränge im Oberschenkel spannten und lösten sich in einem hektischen Intervall. Eine Reihe vor mir flimmerten zwei Fernseher – gleich waren sieben Bochumer Jahre ohne Europapokal vorüber. Ich schlug mit der Faust auf die Schenkel, um dem Zucken Herr zu werden.

Belgiens Marcel Reif sah ich schon von weitem. Mit der lakonischen Weltverlorenheit eines Einzelreisenden stieg er die Tribünentreppen langsam empor, aus der einen Hand rauchte es, an der anderen baumelte ein Werkzeugkoffer aus Plastik. Unvermutet querte er die Bankreihe für Ehrengäste, stützte sich hier auf den Kopf einer Fabrikantengattin, tätschelte dort die Haare eines Fußballerkindes und atmete halb im Fallen feucht in das Gesicht der Bochumer Oberbürgermeisterkandidatin, bis er 15 Stufen unter mir endlich stehen blieb.

Ungelenk winkte er seinem jungen Kollegen zu, wankend stolperte er dann die Treppe hoch und fiel dem Landsmann um den Hals, raunte ihm etwas ins Ohr, hinterließ dabei Speichel. Dann fiel er seitwärts auf die mittlere Sitzschale. Sein Reporterkollege rückte ihn zurecht, setzte ihm ein Headset auf, erläuterte die Funktionsweise des betagten Mischpults und versuchte den Mundgeruch nach Tabak und Bierschnapsgemisch angestrengt zu ignorieren. Als die beiden Mannschaften zur UEFA-Hymne aufliefen, sprang Belgiens Sportreporterlegende auf, blieb dabei an dem Klapptisch hängen, das Mischpult knallte gegen den Bildschirm und sein Kopfgeschirr riss es hinunter auf die Treppenstufen.

Pünktlich zum Anpfiff bückte sich der Kollege also noch nach dem Sprachgeschirr des belgischen Fernsehstars, der derweil klatschte, johlte und mit den beiden Kolleginnen nebenan zu flirten versuchte – doch der geübte Reporterblick ging an der WDR-Journalistin vorbei ins Leere. Schade, dachte ich – schade dass ich diese Liveübertragung nicht am belgischen Fernsehen verfolgen durfte. Es wäre sicherlich weniger traurig gewesen. Und der Rest ist Schweigen. CHRISTOPH SCHURIAN