schurians runde welten : Wir sind Torstange!
„Auf dem Platz kann ich ja nicht mehr dabei sein, aber als Fan komme ich gerne wieder.“ (Ebbe Sand)
Wer sich von diesem Artikel nicht angesprochen fühlt, wird ihn nicht lesen. Doch gut für uns Journalisten: Niemand weiß, wie viele LeserInnen ein Artikel hat. Alle Versuche, das herauszufinden, sind ähnlich seriös wie die Werbung für Röntgenbrillen, durch die man bekleidete Menschen nackt sehen kann. In der Leseforschung wurden zunächst Pupillenbewegungen aufgezeichnet, neuerdings kommt ein Reader-Scan zum Einsatz: Testlesende streichen mit dem Elektromarker an, was sie gerade lesen. So oder so sind die Ergebnisse wenig überraschend. LeserInnen sind neugierig und faul. Sie hüpfen durchs Druckwerk wie durchs Fernsehprogramm. Damit sie dran bleiben, müssen sie sich angesprochen fühlen.
Im Fernsehfußball führt die Grundregel der Sehverhaltensforschung mitunter zu drolliger Heranschmeiße: Weil es kein deutsches Team ins Uefa-Cupfinale oder die Schlussrunden der Champions League schaffte, die Sender aber nicht auf ihrer Fernsehware sitzen bleiben wollten, zeigen sie Spiele von Arsenal, dort hütet immerhin Nationaltorwart Jens Lehmann das Tor.
Vorgestern Abend war es schwieriger: Im Finale zwischen Middelsbrough und Sevilla war weit und breit kein deutscher Spieler unterwegs. ZDF-Kommentator Béla Réthy fand dennoch einen Weg, das Ereignis nach Hause zu verkaufen. Die Familie des Torwartes der Nordengländer, verriet der ungarnstämmige Réthy, sei 1967 aus Deutschland ausgewandert. Mark Schwarzer spreche aber „immer noch“ hervorragend Deutsch. Seltsam, er wurde erst 1972 in Sydney geboren. Dann erinnerte Réthy an die eindrucksvolle Bundesligabilanz Schwarzers: Der habe sechs Ligaspiele für Dresden und Kaiserslautern absolviert, was bei einem europäischen Clubfußballgipfel ziemlich von Belang ist. Doch nicht nur ein deutschstämmiger Ballfänger sollte vom Umschalten abhalten. Häufiger als jeden anderen Akteur würdigte Réthy die Leistung des deutschen Schiris Herbert Fandel, der auf gehobenem „internationalem Niveau“, nein: „Weltklasse“ pfeife.
Ohne jetzt düstere Aussichten an die Wand werfen zu wollen, konnte Béla Réthy also vorgestern schon einmal dafür üben, wenn in wenigen Wochen die Welt zu Gast bei Freunden ist und ab dem Viertelfinale die Sache unter sich ausmachen sollte. Denn an Weltklasseleistungen von „unserem“ WM-Schiedsrichter Markus Merk kann man sich auch prima ergötzen. Sollte auch der stimmlich tiefer gelegte Ex-Zahnarzt patzen, noch ein Tipp an alle TV-Réthys und -Pletis: Alle Torstangen der WM wurden in Deutschland hergestellt – und sind TÜV-garantierte Weltklasse.CHRISTOPH SCHURIAN