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rocco the killer von JOACHIM SCHULZ

Wie der Zufall es wollte, befindet sich das neue Domizil, das die Liebste und ich kürzlich bezogen haben, in einem Haus, in dem auch zwei alte Freunde logieren. Wie der Vermehrungsdrang jener Freunde es wiederum wollte, haben sie den Planeten vor knapp zehn Monaten um einen Knirps namens Rocco bereichert. Was freilich die große intergalaktische Fatumsverwaltung wollte, als sie diesen Buben auf den Weg ins Leben schickte, welche Pläne sie mit ihm hat – das ist noch nicht raus. Nur ich, ich habe eine Ahnung.

Fest steht, dass Rocco grinst. Immer. Machen die Nachbarn einen Spaziergang durchs Viertel oder am Fluss entlang, bildet sich spornstreichs eine Passantentraube um den Kinderwagen. „Wie goldig! Wie niedlich! Wie herzallerliebst!“, schallt es aus der Traube heraus. Vom Grinsen des Kerlchens bezaubert, spekulieren einige darüber, dass er sicherlich eine phänomenale Karriere im Showbiz machen werde, andere bieten den Rocco-Eltern ihre eigenen ewig quakenden Sprösslinge zuzüglich einer stattlichen Transfersumme zum Tausch gegen den Burschen an. Diese Narren! Sie haben ja nicht den blassesten Schimmer!

Ich hingegen, ich habe. Vor knapp vierzehn Tagen waren die Liebste und ich zum Sonntagnachmittagskaffee bei unseren Nachbarn eingeladen. Die Stimmung war heiter, Schnurren wurden zum Besten gegeben – jählings aber entrang sich ein markerschütternder Schrei der Kehle des Rocco-Vaters, und das lag daran, dass eine Tasse aus unerfindlichen Gründen von der Tischkante gestürzt war und ihren brühend heißen Inhalt über seine Oberschenkel verteilt hatte. Ausrufe des Mitleids und der Bestürzung folgten, ein Eisbeutel wurde zwecks Epidermiskühlung gefüllt – nur Rocco grinste. Und irgendwie meinte ich, das Händchen des Knirpses Sekunden vor dem Malheur aus den Augenwinkeln ganz in der Nähe der Tasse gesehen zu haben.

Kurze Zeit später bekam der Zwerg die erste Erkältung seines Lebens. Er machte einen recht erbarmungswürdigen Eindruck, da ihm der grüne Schmodder sogar aus den Tränendrüsen herausquoll und die Augen verklebte – trotzdem aber hatte ich den Verdacht, dass er sich den Bazillus nicht ganz ohne Absicht eingefangen haben könnte. Die Nachbarin putzte ihm die Nase, ihr Gatte wiegte ihn im Arm. Die Liebste nahm ihn auf den Schoß und streichelte ihm tröstend über den Kopf. Rocco hustete sie an und grinste. Nur ich machte tagelang einen großen Bogen um das Bürschlein. „Du mitleidsloses Scheusal!“, zischte die Liebste: „Du gemeiner, hartherziger …“ Ein plötzliches Halskratzen unterband die weitere Absonderung von Beschimpfungen. Sie räusperte sich, konnte den Reiz nicht unterdrücken, hustete mich an. Und Rocco grinste.

Am nächsten Tag schon hatte das Kerlchen sich wieder erholt. Wie durch ein Wunder war die Erkältung schlagartig weg. Die Nachbarn, die Liebste und ich jedoch liegen seitdem hustend und röchelnd auf unseren Lagern. Um unsere Überlebenschancen steht es nicht zum Besten. Doch früher oder später kriegt er uns ja sowieso. Der kleine, grinsende Killer.

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