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robin alexander über SchicksaleKomm, junger Mann, und schlaf bei mir!

Rita berät Flüchtlinge und heiratet manchmal einen von ihnen. Warum macht sie das bloß?

„Warum machst du das bloß?“

Nicht unbedingt die eleganteste Reaktion auf die Bitte einer Freundin, ihr Trauzeuge zu werden. Zugegeben.

„Warum machst du das bloß?“

Andererseits lag die Frage schon sehr nahe. Meine Kollegin wollte einen schönen arabischen Jungen von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren heiraten. Ja, sicher, das klingt erst einmal gut. Aber Rita, die deutlich auf das Ende ihres dritten Lebensjahrzehnts zugeht, arbeitet in einem so genannten Flüchtlingsbüro. Der Name der Institution ist ein wenig irreführend, denn weder arbeiten in diesem Büro Flüchtlinge, noch kann man dort Flüchtlinge bestellen. Vielmehr arbeiten dort „Berater“ und „Beraterinnen“, die sich mit deutschem Ausländer-, Asyl- und ähnlichem Recht auskennen. Eigentlich also ein „Flüchtlingsberaterbüro“, von mehreren Wohlfahrtsverbänden und staatlichen Zuschüssen finanziert, in der Eigenwahrnehmung nichtsdestotrotz „unabhängig“. Dort gilt nicht ohne Grund eine eiserne Regel: Es gibt nur Heiraten aus Liebe und Scheinehen aus Solidarität. Nichts dazwischen!

„Warum machst du das bloß?“

Hatten also auch Ritas Kollegen gefragt. Zumal Rita wirklich ein gebranntes Kind ist: Anders als andere in ihrem Alter haben die jungen Männer unter Ritas „Klienten“ aus einleuchtenden Gründen oft ein sehr dringendes Interesse, rasch zu heiraten. Rita hatte jedenfalls, seit wir uns kennen, schon zwei Nachnamen, einer arabisch, einer rumänisch. Naiv ist Rita nicht, und die Männer, sagt sie, lieben sie ja auch „ein oder zwei Jahre“. Sie sind jung. Danach beginnt wieder die Einsamkeit langer Nächte. Wobei Rita an exotischen jungen Männern mitnichten in erster Linie Sex interessiert. Gar nicht. Ihr geht es nicht um Beischlaf, sondern um echten Schlaf.

„Warum machst du das bloß?“

Sagt sie: „Ich brauch einfach jemanden neben mir. Ich möchte nicht mehr allein schlafen.“

Manchmal glaubt Rita, diese Antwort klinge ein bisschen schlicht. Dann gibt sie noch einen intellektuellen Nachschlag. Nicht für sie sei Schlaf viel wichtiger als Sex, behauptet sie dann. Ihre These ist, das Verhältnis zum Schlaf habe sich in dieser Gesellschaft grundlegend gewandelt. Galt es in Unternehmen und Behörden, wo karriereorientierte Menschen arbeiten, früher als erste Selbstverständlichkeit, um jeden Preis pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen, sei es heute viel wichtiger, ausgeschlafen auszusehen. Ein müdes Gesicht taugt nicht mehr als Nachweis von Fleiß, sondern ist ein gefährliches Anzeichen von Verbrauchtheit. Man muss nicht gut schlafen, jedoch zumindest so aussehen als ob, schimpft Rita.

Der Spruch von Rainer Werner Fassbinder – „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“ – sei heute doch völlig undenkbar. Die einzige Band, von der sowohl Rita als auch ihre Zivis Kassetten im Walkman haben, nenne sich nicht zufällig nach der Phase des traum- und erholungsintensivsten Schlafes: REM. Wer war der letzte Popstar, der müde aussah, fragt Rita dann und lacht: Johnny Cash?

„Deshalb machst du das?“

„Nein. Nicht wirklich.“

In ihren wachsten Phasen erinnert sich Rita an die Schlaf-und-Wach-Gewohnheiten ihrer Eltern. Deren Ehe hat sie wie die meisten ihrer Generations- und Bildungsgenossen jahrelang respektlos als „eng und kleinbürgerlich“ beschrieben. Heute erzählt sie, wann ihr Vater aufwacht: jeden Morgen um 4.30 Uhr. Seine Schicht beginnt um sechs. Eigentlich. Denn seine Firma hat ihn schon vor Jahren in den Vorruhestand geschickt. Er stellt natürlich keinen Wecker mehr. Trotzdem wacht er jeden Tag zu dieser frühen Stunde auf. Er geht dann leise zum Briefkasten, holt die Zeitung und liest schweigend am Küchentisch. Eine Seite nach der anderen. Wenn er bei den vermischten Meldungen angekommen ist, legt er die Zeitung weg und geht zurück ins Bett. Dann schläft er friedlich bis acht Uhr. Ihre Mutter wacht immer mit auf, sagt Rita, dreht sich dann um und weiß, alles ist in Ordnung. Sie ist sicher, schliefe ihr Vater eines Tages gegen seinen gewohnten Rhythmus durch, würde ihre Mutter ab 4.30 Uhr vor Sorge kein Auge mehr zumachen können.

„Warum machst du das bloß?“

Ist damit wohl erklärt. Ich finde Ritas Motiv, zu heiraten, jetzt nachvollziehbar. Und ich war stolz, ihr Trauzeuge zu sein. Ihr neuer Mann steht natürlich morgens nicht so früh auf wie ihr Vater – ein Bleiberecht ist noch kein Arbeitsplatz. Ob er sich umdreht, wenn Rita in ihr Flüchtlingsbüro geht? Ich kenne ihn kaum. Nach dem Standesamt hat er die Gäste in ein Eiscafé eingeladen und einen seiner Namen ins Englische übersetzt: „Sahir means wakeful.“ Schlaflos könnte das heißen. Oder wachsam.

Fragen zu Schicksalen?kolumne@taz.de

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