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Archiv-Artikel

robin alexander über Schicksal Gut, wenn man ein Hobby hat

Ein Land, dessen Wirtschaftsmathematiker Schüler durch den Zoo führen, hat ein Problem. Oder?

Rezession ist, wenn stagnierender oder rückläufiger Investitionsumfang und sinkende Produktion zu sinkender Lohnsumme und damit zu sinkender Nachfrage führen. Depression ist, wenn Produktion, Beschäftigung, Einkommen, Gewinne und Preise immer weiter fallen. Wirtschaftskrise ist, wenn Unternehmen zusammenbrechen und es Massenarbeitslosigkeit gibt. Deutschland am Ende ist, wenn mein Freund Friedrich keinen Job findet. Zugegeben: Der letzte Krisenindikator klingt ein bisschen arg handfest und ist zudem sehr persönlich. Aber nach einem einzigen Blick auf Friedrich würde mir jeder sofort zustimmen. Ganz passend zu seinem altmodischen Vornamen ist er die Seriösität auf Beinen. Pünktlich und verlässlich, erst 25 Jahre und hat schon fertig studiert und – das Wichtigste: etwas Reelles. Betriebswirtschaftslehre? Ist doch eine quasi Geisteswissenschaft! Informatik? Macht heute doch jeder Hippie! Medizin? Noch besser. Freund Friedrich besitzt ein Diplom in Wirtschaftsmathematik. Jaahah: W-I-R-T-S-C-H-A-F-T-S-M-A-T-H-E-M-A-T-I-K. Das sind die Leute, die vor der Globalisierung keine Angst haben müssen. Die machen die Globalisierung.

Schon während des Studiums war klar: Leute wie Friedrich spielen in einer anderen Liga. Studenten warten vier Semester auf einen Platz im überfüllten Grundseminar „Hölderlin in Sanskrit. Die Rezeption der Romantik auf dem indischen Subkontinent im späten 19. Jahrhundert“. Neben schlecht bezahltem Kellnern und gar nicht bezahlten Praktika ist die Hauptbeschäftigung im Studium seine schlichte Organisation.

Studenten sind froh, wenn der Prof von der Verabredung bis zur Abgabe einer Magisterarbeit nicht ihren Namen vergessen hat. Wirtschaftsmathematiker hingegen sitzen nicht im überfüllten Seminar, sondern „am Problem“. Ihre Professoren erarbeiten mit ihnen in kleinen Teams Forschungsfragen, nein: „Forschungsaufgaben“. Hakt es irgendwo, rufen sie ihre Studenten zu Hause an. Kein Wort von Friedrichs Diplomarbeit würde auch nur einer seiner Freunde verstehen. Er darf sie sowieso niemandem zu lesen geben, denn ein Unternehmen hat ihn für die Erstellung bezahlt und hält nun die Rechte. Wichtiger als das Geld und die effiziente Ausbildung war etwas anderes: Während seine irgendwas anderes studierenden Freunde akademisches Wissen erwarben, nahm Friedrich am Fortschritt teil. Nicht als Konsument. Als Produzent. Aktiv. Als handelnder Mensch.

Seine Seminargruppe löste zum Beispiel das Problem der Überbuchung von Flügen, bei den Wirtschaftsmathematikern „Optimal Revenue Management of Perishable Assets through Price Segmentation“ genannt. Airlines streben eine möglichst hohe Auslastung an, aber irgendwer cancelt seinen Flug immer in letzter Minute. Also werden 102 Prozent Tickets verkauft und wenn dann doch keiner cancelt, wird ein armer Kunde nicht an Bord gelassen, obwohl er ein gültiges Ticket hat. Die Lösung der jungen Wirtschaftsmathematiker: Trotz Imageverlust rechnet sich diese Praxis für die Airlines. Empfehlenswert ist sogar eine Überbuchung von 106 Prozent. Wenn Sie einmal eine Nacht auf Airlinekosten in einem Motel nahe dem Flughafen verbringen dürfen, denken Sie an Friedrichs Seminargruppe. Privat ist er übrigens nett. Er hat ein charmant-seltsames Hobby: Zoologie.

Später arbeitete Friedrich an digitalen Signaturen für Finanztransfers und daran, wie Computer menschliche Fingerabdrücke „biometrisch“ erfassen können. Technologien, die bekanntermaßen ganz schlimme Auswirkungen haben werden. Nun ja: Technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Fortschritt fallen nicht unbedingt zusammen.

Das ist nicht neu. Neu ist: Technischer Fortschritt findet in Deutschland nicht mehr statt. Dieser Satz klingt jetzt so stark hansolafhenkelesk, dass ich relativieren möchte: Er findet auf jeden Fall ohne Friedrich statt. Wahrscheinlich zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bekommen Wirtschaftsmathematiker Absagen auf Bewerbungen.

Können im Kapitalismus Leute überflüssig sein, die empfehlen, die Überbuchung auf 106 Prozent zu steigern? Und: Was machen die dann? Nun, Freund Friedrich kommt nach einem anfänglichen Schock ganz gut klar. Beim Studienkreis gibt er Mathe-Nachhilfe für schwache Schüler. Ein Computerladen bringt ab und an ein paar „Rechner zum Schrauben“ vorbei. Und sein Hobby hat er ausgebaut: Im Zoo veranstaltet er jetzt Führungen für Schulklassen und andere Besuchergruppen. Jemand, der ausgebildet wurde, die Überbuchung auf 106 Prozent zu steigern, macht es glücklich, Kindern exotische Tiere zu zeigen. Wenn das kein Krisensymptom ist!

Fragen zu Wirtschaftsmathematik?kolumne@taz.de