rezension: Das ADFC-Radtourenprogramm lässt sich als Lyrikband lesen
VOM TAL DER LIEBE ZU BLUTGETRÄNKTEN HÖHEN
Jedes Jahr im Hochsommer stolpern wir unversehens über den Packen Papier vor der Wohnungstür, in dem schwedische Möbel angeboten werden. Auch wer keine kaufen will, liest sich zumindest die Namen durch, mit denen die Chefpoeten in die neue Saison gehen: Man schmunzelt unter Freunden und in der Familie, Kolumnisten spitzen die Feder zur alljährlichen Rezension. Ein Volkssport. Für dieses Jahr müssen wir uns noch ein wenig gedulden. Unterdessen verkürzen wir uns die Zeit mit dem ADFC-Radtourenprogramm für Berlin und Brandenburg.
Zwar reicht der kleine Bruder in puncto unkonventioneller Rechtschreibung nicht an das skandinavische Vorbild heran, doch die Betrachtung der Tourentitel lohnt – offenbaren sie doch einen facettenreichen Blick auf eine mitunter gebrochene Realität.
Wenn die Autoren uns heute die Süße des Daseins in einer „Frühlingstour durch das Tal der Liebe“ vor Augen führen, spielen sie nur mit unserer Erwartungshaltung. Eine Woche später heißt es bereits: „Schöne Aussichten auf blutgetränkten Höhen“ (30. April). Die darin programmatisch angelegte Zerrissenheit findet zunächst noch ihre Fortsetzung in den Touren „Autobahnsee Reckahn“ (25. Juni), „Zum Buddhistischen Haus und zur Invalidensiedlung“ (1. Juli) und „Bunkergeheimnis bei Falkenhagen“ (9. Juli), um wenig später ins rundheraus Kryptische zu kippen: „3 Jahre danach“ (30. Juli), „Sportliche Frauen unterwegs“ (13. August), „Von Schwedt nach nirgendwo“ (26. August).
Gelegentlich noch schrecken freilich die Autoren vor dem klaren Wort zurück. So trägt etwa die „gemütliche Tour mit Atelierbesichtigung in Kotzen, Gießerei in Landin, Kaffee und Kuchen in Liepe“ (7. Mai) den umständlichen Titel „Offene Ateliers im (West-) Havelland“. Hätte sich nicht vielmehr die Alliteration „Kotzen, Kaffee und Kuchen“ aufgedrängt?
Gleichviel: Werden wir doch zum Ende des Jahres hin versöhnt, radeln „Durchs Urstromland“ (7. Oktober), wittern „Herbststimmung an den Peitzer Teichen“ (14. Oktober) und sinnieren schließlich im „Biergarten Diedersdorf“ (29. Oktober). MARTIN KALUZA
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