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reich-ranickis retro-pointen von IRA STRÜBEL

Deutschland ist ja bekanntlich das Mutterland des Humors. Alle, die das nicht finden und jetzt vorschnell und laut „Haha!“ rufen, sollen erst einmal einen guten Witz erzählen. Oder sich das Postleitzahlenbuch kaufen und Orte wie „Möschlitz“ und „Deppenhausen“ nachschlagen. Wer jetzt sagt: „Aber das ist doch keine Literatur, das kann man doch nicht lesen“, lebt in dem Irrglauben, der Mensch ernähre sich ausschließlich vom Kanonischen, Müllsortieren und von Leberwurst.

Möglicherweise hat er auch die Telekom-Anzeige mit Marcel Reich-Ranicki noch nicht gesehen. In der steht der alte Mann, schwarzweißgrau und steinern, gramgebeugt und mit seinem hoch bezahlten finsteren Blick versehen, auf einen Sessel gestützt, und hält ein knallfarbiges Telefonbuch in der Hand. Ein Satz, etwa von der Qualität „Der Figurenreichtum dieses Buches ist erstaunlich“, wurde ihm in Telekom-Lettern in den Mund gelegt.

Ich bin mir ganz sicher, dass ich diesen Witz und seine unzähligen Varianten aus den späten Siebzigern kenne. Damals sagten wir, je nach Wetterlage: „Geh, das kommt davon, wenn man immer nur das Telefonbuch liest“ , oder auch: „Hey, der Streber, der liest doch bestimmt sogar das Telefonbuch“.

Wenn man früher einen alten Witz erzählte, dann sagten die anderen hämisch: „Der hat ja einen Bart, den man dreimal um die Hauptschule wickeln kann.“ Oder: „Witz, komm raus, du bist umzingelt!“ Das waren noch Konventionen! Heute aber lachen die Leute darüber, und man weiß nicht, ob sie den alten Witz noch nicht kannten, weil sie uninformierte Grenzdebile ohne Zeitungsabo und Internetanschluss sind oder ob sie an einem übertoleranten Helfersyndrom leiden und mit ihrem Lachen für ein gutes Karma sorgen wollen. Von diesem wahllos kichernden, Humor herausgeforderten Gesellschaftszustand jedenfalls ernähren sich unzählige so genannte Comedians, die seit drei Jahren nichts anderes tun als mehr oder weniger gekonnt einen südländischen Akzent zu imitieren und dafür fürstlich bezahlt werden. Und jetzt springt auch noch Marcel Reich-Ranicki, dessen Akzent sicher mit einem Trademark-TM geschützt ist, auf den Zug auf und liest zu Werbezwecken das Telefonbuch. Wie die Streber damals in den Siebzigern. Aber sicher für ein erheblich höheres Taschengeld. Dabei sollte man meinen, er habe zum Geburtstag genügend Tantiemen verdient. Aber so sind sie, die exzentrischen Millionäre: trennen freiwillig ihren Müll, aber recyceln für Geld Witze.

Als Nächstes bitte ich um eine Rezension des Beate-Uhse-Katalogs durch Herrn Karasek. „Dieses Buch ist voller sexueller Anspielungen“, oder etwas ähnlich Tiefsinniges könnte ich mir gut vorstellen. Ich wünsche mir das nicht des Geldes wegen. Ich glaube, Herr Karasek verdient genug. Nein, eher schon als Plädoyer für die Erotik in der Literatur. „Haha! Der hat ja nun mal einen Bart, den man dreimal um die Hauptschule wickeln kann!“, höre ich da die Kanoniker und Leberwurstesser triumphierend rufen. „Erwischt!“, murmle ich und gehe meinen Müll sortieren.

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