regen im kopf von KARL WEGMANN:
Der Sommer tut so, als wäre er wirklich einer, hat die Regnerei kurzfristig eingestellt und die unterbeschäftigte Sonne wieder von der Leine gelassen. Wir halten ihr unsere bleichen Gesichter und Schwimmhäute entgegen, und Willy meint: „Der Sommer hat wahrscheinlich auch Jonathan Franzens ‚Die Korrekturen‘ gelesen.“ – „Wie jeder, in dieser Waterworld“, ergänzt Hermann und zieht den Korken aus einer neuen Flasche Riesling.
Aus den Außenlautsprechern kriecht Mark Olson und jammert uns die Ohren voll. Aber „December’s Child“ passt nicht richtig zu diesem Fitzelchen Sommer, also steht Willy auf und schiebt das neue „Sixteen Horsepower“-Album ins japanische Gerät. Doch auch die Pferdestärken können den Regen in unseren Köpfen nicht vertreiben. Allein badischer Wein scheint zu helfen.
Konscho erzählt vom Oerol-Festival auf Terschelling. „Hippies“, sagt er, „überall tausende von Hippies. Haste seit 30 Jahren nicht mehr gesehen. Batik, lange Haare, lange Röcke, Straßentheater, Che-Guevara-T-Shirts und über der ganzen Insel eine duftende Marihuana-Wolke. Und nirgendwo Laptops, Handys, Boss-Anzüge, DVD-Player oder Jogger. Nicht mal tragbare CD-Spieler.“ Konscho ist immer noch völlig fasziniert. „Beim Abschlusskonzert mit ‚Los De Abajo‘ seh ich, wie da ein paar Südamerikaner haufenweise Sardinen grillen. Ich geh hin und frag, was sie kosten. ‚Free man, all free‘, sagt da der Lockenkopf am Grill und packt mir zwei Fische auf eine Brotscheibe. Mann, ich sage euch, ich hab das alte Paradies wieder gesehen.“ – „Wohl kaum“, meint Bernd, der bis jetzt in Gore Vidals ‚Ewiger Krieg für ewigen Frieden‘ geblättert hat, „du bist nur ein bisschen auf einer dieser Nostalgiewellen gesurft, keine große Sache …“ Konscho zieht ein langes Gesicht. „Doch große Sache“, erwidert er trotzig, „denn ist nicht allein die Tatsache, dass es noch so viele Hippies gibt, irgendwie beruhigend …?“ – „Nee“, sagt Bernd, „der Raubtier-Kapitalismus schläft nie, er guckt nur mal kurz weg.“ Da zieht uns alle runter. Gläser werden geleert, wieder gefüllt, wieder geleert … – der Kreislauf der Lebens.
Dann erzählt Willy, dass die britische Schickeria jetzt Indien entdeckt hat. „Die fahren total ab auf indische Musik, indische Klamotten , indische Filme …“ – „Und auf indische Atomraketen“, wirft Bernd düster ein. Aber er kann die aufkeimende lockere Stimmung nicht wieder brechen. „Andrew Lloyd Webber hat sogar ein Musical produziert, das ‚Bombay Dreams‘ heißt“, macht Willy weiter. „Handelt wahrscheinlich von einem hungernden Straßenkind, einer minderjährigen Hure und einer heiligen Kuh“, lacht Konscho. „Genau“, sagt Willy, „und kommt demnächst für 35 Jahre nach Hamburg in ein neues Musicalcenter.“
Der Regen im Kopf ist verschwunden, die Sonne immer noch da und genügend Wein sowieso. Willy legt die „Flaming Lips“ auf, Konscho schmeißt den Grill an und dann beschließen wir, im nächsten Sommer alle zusammen nach Terschelling zu fahren, um bei diesem zukunftweisenden Festival mitzumachen.
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