: "Wir sind reine Mischlinge"
■ Der Philosoph und Romanautor Richard Kearney über die irischen Schwierigkeiten mit der Identität
taz: Sie haben einmal geschrieben, es gebe nicht die eine gültige Version der irischen Kulturgeschichte, sondern eine Vielzahl von Übergängen zwischen verschiedenen Darstellungen. Wie haben Sie das gemeint?
Richard Kearney: Eine der großen Schwierigkeiten und Gefahren in der irischen Geschichte war die Annahme, daß es so etwas wie eine reine irische Identität geben könnte. Ich möchte in diesem Zusammenhang den irischen Dichter Thomas Kinsella zitieren, der gesagt hat: „Wir sind, was wir sind – reine Mischlinge.“ Darin liegt eine gewisse Ironie: Wir sind reine Kreuzungen. Für die kulturelle Debatte in Irland ist es sehr wichtig zu sehen, daß die Vorstellung eines ethnisch reinen und politisch wie religiös homogenen irischen Volkes ein Konstrukt ist, das auf den englischen Nationalismus zurückgeht und vom irischen Nationalismus übernommen wurde. Es passiert ja häufig, daß die Kolonisierten die kolonialen Muster übernehmen. Für die Engländer und später die Briten war es sehr wichtig, einen „anderen“ zu haben, über und gegen den sie sich definieren konnten.
Zunächst war es Kontinentaleuropa, besonders der französische Katholizismus und der revolutionäre Jakobinismus, dann waren es die Kolonien, die zu kolonisierende Welt. Was England und den englischen Nationalismus festigte, war die Tatsache, daß es einen Feind vor der eigenen Haustür gab, jemanden, der als Teil ihres Imperiums erachtet wurde, es aber doch nicht war. Dublin war immer die zweite Stadt Englands und Irland stets das zweite Land des britischen Empire. Die Iren wurden so zu einem Phantom für England. Sie wurden zu „reinen Kelten“, wie es Mathew Arnold im 19. Jahrhundert formulierte. Arnold sagte, die Iren seien wunderliche und exotische Käuze, die Angelsachsen hingegen eine germanische, vernunftbegabte, gesetzes- und regierungstreue „Rasse“.
Die Iren träumen ihre Träume, sie machen ihre Musik, sie werden immer so sonderbar bleiben, wie sie sind. Das war im Grunde die Botschaft. Sie lebten auf ihrer „Insel hinter der Insel“, wie George Bernard Shaw es formuliert hat. So konnten die Briten ihr Selbstbild und das Gefühl ständiger Bedrohung durch den „anderen“ vor der eigenen Haustür hegen. Als wir dann unsere Unabhängigkeit erlangten, übernahmen wir diesen Mythos von einem reinen, homogenen Irischsein und vergaßen, daß wir eine Vielfalt von Völkern und Kulturen sind, ein Inselvolk, das zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert seine Botschafter nach Europa entsandte, wie etwa Gallus, Columbanus oder Kilian. Es gab stets auch Auswanderer, etwa die intellektuelle Migration des 18. Jahrhunderts. Man denke nur an George Berkeley oder Jonathan Swift.
Oder im 20. Jahrhundert Beckett und Joyce?
Ja, Beckett, Joyce, Yeats – ein literarisches Exil hat es auch immer gegeben. Die Vorstellung findet sich schon in den alten Reiseschilderungen oder „Immrama“, von „Mael Duin“ bis zur „Navigatio Sancti Brendani“. Wir haben in unserem Land eine Geschichte des Weggangs und der Invasionen. Das erste Buch irischer Kultur ist das „Book of Invasions“. Wir sind eine Mischung aus Kelten, Prä- Kelten – das Hügelgrab Newgrange im Boyne-Tal wurde nicht erst von Kelten, sondern von Prä-Kelten errichtet – Wikingern, Dänen, Angelsachsen, Schotten. Es gab also ein Kommen und Gehen verschiedener Völker und Kulturen und natürlich von Religionen.
Welche Bedeutung kommt in diesem Kontext dem diesjährigen Schwerpunktthema der Frankfurter Buchmesse zu: Irland und seine Diaspora?
Dieses Festival ist sehr wichtig, weil damit der Tatsache Rechnung getragen wird, daß 72 Millionen Menschen auf dieser Erde sich auf ihre irische Herkunft berufen. Davon leben nur dreieinhalb Millionen in der Republik Irland. Sie bilden eine Wandernation, was ein Widerspruch in sich ist, weil Nationen sich gewöhnlich durch ein Territorium definieren. Die Iren reisen gerne, vor allem in Europa, sie sind gute Europäer. Die jüngere Generation lernt gerne andere Sprachen, läßt sich gerne auf andere Kulturen und Länder ein. Das macht in gewisser Weise auch ihre Identität aus. Die jungen Leute müssen sich nicht immer fragen, wer sie eigentlich sind. Sie können sich auf andere Kulturen einstellen. Und wie die Iren in Australien, in den USA und in Kanada sind sie als Wandernation sehr erfolgreich, was sicher etwas mit unserer Flexibilität zu tun hat. Sie stellen die Frage, die alle irischen Dichter und Denker bewegt hat: „What is my nation?“ Schon Captain Macmorris stellte in Shakespeares Drama „Henry V.“ die Frage: „What is my nation?“ Die Iren stellen sich diese Frage immer wieder, weil eine irische Nation nicht existiert. Und der Krieg im Norden Irlands wird auch deshalb geführt, weil es Bedenken gibt gegen die Vorstellung einer einzigen und reinen irischen Nation. Wir wissen, daß diese Vorstellung nicht richtig ist, nie richtig war. Es gibt eine Million Protestanten, die uns deutlich machen, daß sie nicht Teil der irischen Nation sein wollen. Eine reine englische Nation existiert ebensowenig wie eine reine irische Nation. In gewisser Weise haben sich England und Irland gegenseitig als rivalisierende Nationalismen erfunden.
Lassen Sie uns über irische Literatur sprechen. Welche jüngeren Schriftsteller finden Sie interessant, welche Themen sind für die zeitgenössische Literatur wichtig?
Ich mag den jungen, urbanen schwarzen Humor einer Reihe von jungen Schriftstellern, wie etwa Roddy Doyle, Dermot Bolger oder auch Aidan Mathews. Sie schreiben nicht über das ländliche Irland, ihre Literatur ist nicht die eines William Butler Yeats, Seamus Heaney, Patrick Kavanagh oder Austin Clark. Sie handelt von einem anderen Irland. Patrick McCabe und Neil Jordan muß ich ebenfalls nennen. Sie zeichnen ein sehr düsteres Bild. Ihr Humor ist sehr schwarz. Die junge Schriftstellergeneration, die sich durchzusetzen beginnt, hat sowohl der intellektuellen Literatur als Erbe von Joyce wie auch der ländlich-romantischen Dichtung in der Folge von Yeats eine Absage erteilt. Wir hatten eigentlich bislang keine Ideen-Romane. Ich habe mich mit meinem Roman „Der Sündenfall“ an dem Experiment versucht, eine Mischung aus irischem und europäischem Roman zu schreiben. Die von mir genannten Autoren schreiben über Unterprivilegierte, Drogenabhängigkeit, Prügel in der Ehe, über Inzest, Gewalt, Totschlag. Sie räumen mit der Illusion auf, wir seien noch das Volk der „Insel der Heiligen und Gelehrten“. Das sind wir nicht. Ich schätze diese Autoren zwar sehr, was sie aber schreiben, ist nicht genug. Der negativen Welle wird sicher eine positivere folgen. Vermutlich muß man aber durch diese Hermeneutik des Mißtrauens und Argwohns, der Negation und Kritik hindurch. Es bedarf wohl dieses Fegefeuers, um zu mehr „himmlischen“ Dingen vorzustoßen.
Sie haben Ihr Buch „Der Sündenfall“ erwähnt. Ist es eine Fortsetzung der Philosophie mit anderen Mitteln?
In gewisser Weise ja. Die beiden Brüder, von denen das Buch handelt, sind voneinander das Spiegelbild . Ich habe darzustellen versucht, wie wir in unseren Bildern von uns selbst und in denen, die andere von uns haben, gefangen sind. Daher habe ich das Bild von Zwillingen gewählt. Der eine Bruder geht in den Tod, da er nicht aus dem Spiegelbild ausbrechen kann, während der andere verzweifelt versucht, diesem Spiegelgefecht mit seinem mimetischen Rivalen zu entkommen. Einerseits ist das Buch eine Allegorie auf Irland, da wir in diesem doubling gefangen
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sind. Dublin ist doubling, wie Joyce einmal bemerkte. Andererseits ist dieses doubling aber auch das von Irland und England. Die Engländer sind das Volk, das wir so gerne hassen und nie zu imitieren aufhören, wie unser erster Präsident, Douglas Hyde, sagte. In Irland haben wir mit dem Norden und Süden mimetische Rivalen, mit Protestanten und Katholiken, mit Siedlern und gälischer Bevölkerung, mit Anglo-Iren und den native Irish. Zu unserer Kultur des doubling gehören Heuchelei und Verlogenheit, eine Menge Masken. Oscar Wilde, George Bernard Shaw und all unsere großen Bühnenautoren bis hin zu Brian Friel haben sich unserer Obsession für Masken, verborgene Identitäten sowie Rollenspiele angenommen. Nicht nur in Irland, in vielen postkolonialen Gesellschaften müssen die Menschen eine bestimmte Rolle spielen, um überleben zu können. Mein Buch ist als Versuch zu sehen, die Psyche des Doppels zu verstehen. Auf allgemeiner Ebene beleuchte ich die Krise der europäischen Zivilisation, die von mimetischen Rivalitäten besessen ist. Die Weltkriege beruhten auf solchen mimetischen Rivalitäten zwischen rivalisierenden Nationen.
Ihr neues Buch heißt „Postnationalist Ireland – Politics, Literature, Philosophy“. Was verstehen Sie unter postnationalistisch, besonders angesichts der gegenwärtigen Situation im Norden Irlands, dem Stillstand bei den politischen Gesprächen?
Der Stillstand ist eingetreten, weil die Beteiligten den Schritt über den Nationalismus hinaus nicht vollziehen können. Mit Postnationalismus meine ich keineswegs Antinationalismus. Ich sage nicht, daß die irischen Nationalisten ihr Erbe oder die Loyalisten Nordirlands ihren britischen Nationalismus leugnen sollen. Nein, sie sollen sich zu dem Besten ihres jeweiligen Erbes bekennen und es bewahren, dabei allerdings erkennen, daß sie darüber hinausgehen müssen, hin zu einem transnationalen oder vielleicht regional geprägten Irland. Ulster wäre dann eine Region unter anderen, etwa neben Bayern oder Katalonien. Im europäischen Kontext gibt es eine Tendenz dahin, den Nationalismus zu überwinden. Großbritannien zerfällt in Schottland, Wales, Nordengland, Cornwall, Südengland. Irland muß sich meiner Ansicht nach mehr und mehr regionalisieren. Das Problem besteht vereinfacht gesagt darin, daß Großbritannien und die Republik Irland die beiden am meisten zentralisierten Nationalstaaten in Europa sind. Es sind auch die beiden einzigen Nationalstaaten, die an ihrer gemeinsamen Grenze, in Nordirland, einen Krieg haben. Beide Staaten beanspruchen die absolute Souveränität über Nordirland. Und das führt zu einem konstitutionellen Widerspruch. Einen Anspruch auf ein vereinigtes Irland bei gleichzeitiger Fortexistenz des Vereinigten Königreichs kann es nicht geben. Man muß sich von beiden nationalistischen Ansprüchen auf absolute Souveränität – die, wie Rousseau sagte, unteilbar ist – verabschieden. Um das Nordirland-Problem zu lösen, muß das Beharren auf der absoluten Souveränität, müssen der irische wie der britische Nationalismus gleichzeitig überwunden werden. Interview: Jürgen Schneider und Ralf Sotscheck
Richard Kearneys Roman „Der Sündenfall“ ist im Wolfgang Krüger Verlag erschienen (304 Seiten, 39,80 DM). Sein Buch „Postnationalist Ireland – Politics, Literature, Philosophy“ erscheint im November bei Routledge, London und New York (246 S., geb., 37.50 Pfund)
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