"Die Vergangenheit ist nicht vergangen"

■ Zur ersten öffentlichen Aufführung von Kurt Maetzigs 1865 verbotenem Film "Das Kaninchen bin ich" in der Ost-Berliner Akademie der Künste

Dieter wird wegen „staatsfeindlicher Hetze“ drei Jahre in Brandenburg eingesperrt. Seine Schwester Maria will wissen, was das ist: „staatsfeindliche Hetze“. Aber keiner sagt es ihr. Wegen ihres Bruders darf die 19jährige nicht studieren, sie verdient ihr Geld als Kellnerin. Dann verliebt sie sich. In Paul. Paul ist der Richter, der ihren Bruder verurteilt hat. Maria reicht ein Gnadengesuch ein. Aber Paul ist gnadenlos. Sie stellt, typisch Berliner Schnauze, klare, einfache Fragen an ihn. Er antwortet nicht; Paul ist ein Hardliner. Sein Urteil im Fall Dieter, 1961, noch vor dem Mauerbau, war wichtig für seine Karriere. Aber dann, wegen Chruschtschow, ist Liberalisierung angesagt. Pauls Karriere ist in Gefahr. Deshalb will er sein Rücktrittsgesuch zusammen mit dem Gnadengesuch einreichen. „Richter verzichtet auf sein Amt aus Gewissensgründen“, das macht sich jetzt gut. Maria sagt nein. „Du mißbrauchst schon wieder meinen Bruder.“ Und verläßt ihn.

Maria Morzeck oder das Kaninchen bin ich handelt davon, wie Recht gebeugt wird. Wie Menschen einander zerstören, nicht mit stalinistischen Methoden, sondern im Rahmen des realen Sozialismus auf deutschem Boden. Vor allem aber ist das Kaninchen eine scharfe Abrechnung mit Paul, dem Wendehals. Den Roman und das Drehbuch hat Manfred Bieler geschrieben. Danach verließ Bieler die DDR, ging nach Prag und später nach München. Regisseur des Films ist Kurt Maetzig. Der Film wurde 1965 verboten, nach der Entmachtung Chruschtschows und unittelbar vor dem 11. Plenum der SED, das praktisch die gesamte Jahresproduktion der DEFA in den Tresor beförderte. Am 5. Januar 1966 erscheint im 'Neuen Deutschland‘ eine Selbstkritik von Maetzig: Er schäme sich, daß er diesen Film gedreht habe. Am 23. Januar rehabilitiert Ulbricht im selben Blatt den in Ungnade gefallenen Filmemacher.

Mittwochabend in der Akademie; die erste öffentliche Aufführung des „Kaninchens“ nach 24 Jahren. Anschließend Diskussion. Wieder schämt sich Maetzig. Mit ihm auf dem Podium schämen sich Jochen Mückenberger, der damalige DEFA -Chef, und Klaus Wischnewski, damaliger Chef-Dramturg. Alfred Müller, der Darsteller des Paul, sagt: „Wir waren Opfer und Täter zugleich“. Angelika Waller, die die Maria spielte, weint: „Ich habe heute ein altes Kind geboren. Ich wußte nicht, warum ich die ganzen Jahre von der Stasi begleitet wurde, warum ich in Beinahe-Verkehrsunfälle verwickelt war. Heute weiß ich es. Ich finde es nur eklig.“

Dann passiert es. Als Mückenberger betont, daß die DEFA -Künstler sich nach dem 11. Plenum doch sehr entschlossen dem Stalinismus entgegengestellt hätten, wird aus dem Publikum dazwischengerufen. „Na, na na!“ Es ist Bieler. Fünf Minuten später verläßt er den Saal. Frage aus dem Publikum: „Warum sitzt er nicht auf dem Podium?“ Ja, warum eigentlich nicht, sagt der Moderator und Filmemacher Scheumann leise. Aber keiner vom Podium steht auf und holt ihn zurück, das tut eine Zuschauerin. Dann sitzt Bieler neben Maetzig. „Diese Debatte eben, falls man es überhaupt eine Debatte nennen kann, hat mich fürchterlich gelangweilt. Jetzt wird das alles aus dem Hut gezogen mit dem Stalinismus, dabei haben die Polen, die Russen, Tschechen und Slowaken das doch längst erledigt. Wie war das denn damals mit diesen Filmrollen, die aus der DEFA heraus in ein Auto gepackt und über den Berliner Ring ins Politbüro geschafft wurden? Wie konnte so etwas passieren, daß in der Arbeitsgruppe „Roter Kreis“ (die damalige DEFA-Gruppe, in deren Rahmen der Film entstand/chp) paktiert wurde? Auch von Konrad Wolf, muß ich leider dazu sagen. Ich wünschte mir, daß Ehrlichkeit und Wahrheit endlich zu ihrem Recht kommen.“ Er zitiert Faulkner: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“

Maetzig antwortet. Und er antwortet nicht. Erzählt nur von seinem damaligen Viereinhalb-Stunden-Gespräch mit Kurt Hager im Politbüro. Und der Alternative Knast oder Selbstkritik. Was er eigentlich gewollt habe, sei in diesem Film doch deutlich zu sehen. Aber es gebe eben Methoden im Stalinismus, man kenne das aus der Sowjetunion.

Im Publikum meldet sich Frank Beyer. Er komme gerade aus einer Diskussion über seinen 1965 ebenfalls verbotenen Film Spur der Steine. Erik Neutsch, der Autor des Films, habe dort gesagt, er, Beyer, sei damals in die Wüste geschickt worden. „Das ist nicht die Wahrheit. Ich bin nur ans Staatstheater Dresden geschickt worden. 1966 stand für Klaus, Jochen, mich und alle kein Leben auf dem Spiel. Nur unser Wohlleben. Wir können unsere Lage nicht vergleichen mit denen der Opfer der Schauprozesse in der Sowjetunion“.

Jetzt könnte die Debatte beginnen. Darüber, wie ein Regisseur, der sich filmisch gegen Wendehälse bekannt hatte, selber einer geworden ist. Über die Frage, ob die Auseinandersetzungen zwischen Maetzig und Bieler schon während der Dreharbeiten schuld waren an Bielers Weggang nach Prag. Über die Frage, wer jetzt abtreten muß. Aber eine Diskussion findet nicht statt. Eine Kulturfunktionärin und andere Zuschauer verteidigen sich und Maetzig, weil man doch durchgehalten habe. Sie kritisieren an Bieler, daß er jetzt in München sitzt. Es sind die Stimmen des Apparats. Eine Lektorin vom Eulenspiegel-Verlag wählt die bezeichnende Formulierung, daß ihnen die Druckgenehmigung für Bielers Roman seinerzeit „verlorengegangen“ sei. Und erzählt voll Stolz, man bemühe sich jetzt um eine Veröffentlichung.

Die Stimmen auf dem Podium und Saal bleiben leise, oft sind sie kaum zu verstehen. Die Atmosphäre ist gedämpft, lähmend. Ein gespenstischer Abend.

Der Nachgeschmack ist bitter. Erst hinterher erfahre ich, daß die Schauspielerin Angelika Waller - sie spielt übrigens in Frank Beyers Der Bruch mit - keineswegs ein Opfer der Repressionen war. Sie machte Karriere beim Berliner Ensemble und wurde ein Star im DDR-Fernsehen. Ihre Tränen sind höchstens die halbe Wahrheit. „Der Aufbruch in dieser Akademie ist noch nicht vonstatten gegangen“. Auch dieser Satz stammt nicht von einer der Personen, die sich das Durchhalten zugutehalten. Er stammt von Manfred Bieler.

Christiane Peitz