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Archiv-Artikel

„An der Türkei entscheidet sich die Zukunft der EU“ sagt Daniel Cohn-Bendit

Beim EU-Beitritt der Türkei wird bislang über alles Mögliche debattiert – und das Wichtigste ausgespart: das Geld

taz: Herr Cohn-Bendit, die grüne Fraktion des EU-Parlaments hat in Istanbul über den Beitritt der Türkei debattiert. Warum hier, warum jetzt?

Daniel Cohn-Bendit: Ich finde den Zeitpunkt – vor der Entscheidung des EU-Gipfels im Dezember – ausgezeichnet gewählt. Und wir wollen die Debatte in der Fraktion mit Eindrücken von vor Ort unterfüttern. Die Fraktion ist zwar mehrheitlich für den Beginn von Verhandlungen, wir haben aber viele kritische Fragen.

Die türkische Regierung will genauso wie andere EU-Kandidaten behandelt werden. Sie haben diesen Anspruch gegenüber türkischen Medien zurückgewiesen. Warum?

Wir sollen uns nicht selbst in die Tasche lügen. Jeder weiß, dass Verhandlungen mit der Türkei etwas anderes sind als mit Malta, Bulgarien oder Kroatien. Die Verhandlungen sind viel komplizierter, sie werden viel länger dauern, und wir wissen nicht, wie sie enden werden, obwohl wir natürlich auf das Ziel einer Vollmitgliedschaft hin verhandeln. Der Katalog, den die EU der Türkei präsentieren wird, unterscheidet sich nicht von dem anderer Beitrittsländer. Aber es wird viel schwieriger, ihn umzusetzen.

Was heißt das konkret?

Der türkischen Regierung muss es gelingen, den Lebensstandard insgesamt dem EU-Niveau anzugleichen und das enorme Gefälle innerhalb des Landes substanziell zu verringern. Wenn am Ende der Verhandlungen das Pro-Kopf-Einkommen von jetzt 3.500 bis 4.000 Dollar im Jahr nicht auf 12.000 Dollar im Jahr gestiegen ist, wird die Türkei nicht Vollmitglied werden.

Wenn das so ist – warum wird so wenig über Ökonomie geredet. Es geht um Menschenrechte, Minderheiten, Meinungsfreiheit – warum nie um Geld?

Weil es bei den Kopenhagener Kriterien im Wesentlichen um politische Fragen geht. Aber das wird sich ändern, wenn die Verhandlungen begonnen haben.

Es gibt seit 1995 die Zollunion zwischen der EU und der Türkei. Die Mehrheit der türkischen Ökonomen rechnet vor, dass die Zollunion bislang der EU genutzt hat – und in der Türkei das gigantische Haushaltsdefizit mit verursacht hat …

Das türkische Defizit ist doch wohl vor allem dem gigantischen Wasserkopf im öffentlichen Dienst, der Ineffizienz der Verwaltung und der Korruption geschuldet – und nicht der Zollunion. 7 Prozent Wachstum wie jetzt wären ohne die Zollunion kaum zu haben. Bei den Verhandlungen wird aber gerade darum gehen. Wenn die Türkei die Einfuhrbeschränkungen für ihre Textilien aufgehoben haben will, muss sie vorher sicherstellen, dass die Produktpiraterie beendet wird. Lacoste-Hemden für drei Euro in die EU exportieren, das geht nicht.

Die Kritiker eines EU-Beitritts verweisen auf den türkischen Agrarmarkt. Weil über ein Drittel der Bevölkerung auf dem Land arbeitet, würden die Subventionen die EU in die Pleite treiben. Stimmt das?

Die Lage in der Türkei ist vergleichbar mit der in Polen zu Beginn der Verhandlungen. Genau wie Polen muss die Türkei ihre Landwirtschaft modernisieren. Ich gehe davon aus, dass im kommenden Jahrzehnt der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten von 35 auf 20 Prozent zurückgehen wird. Die EU muss ihre Subventionsstrukturen für den Agrarsektor ändern. Das ist klar.

Wenn all dies lösbar ist – warum gibt es in vielen EU-Länder dann so eine Aufruhr wegen der Beitrittsverhandlungen?

Ja, es ist paradox. Aber daran zeigt sich, dass die EU von den Bevölkerungen eben doch doch schon stark verinnerlicht wurde. Die EU wurde ja quasi hinter dem Rücken der Bevölkerung ausgebaut und zur politischen Union vertieft. Daher stammt die Furcht, dass die Leute sich nicht mit der EU identifizieren. Doch das stimmt nicht. Die Leute sind längst in der EU angekommen. Der Euro bestimmt ihren Alltag. Jetzt sollen sie über eine Verfassung für die EU abstimmen. Die Bevölkerungen in der EU haben die Dynamik des Vertiefungsprozesses verstanden, und sie sehen die teilweise Überwindung der Nationalstaaten. Deshalb die vehemente Debatte.

Trotzdem – warum diese Hitzigkeiten bei der Türkei und nicht bei der Osterweiterung?

Die Osterweiterung war eine Konsequenz des Kalten Krieges. Der ist endgültig vorbei – jetzt wird die lange verschleppte Identitätsfrage der EU mit Macht virulent. Die Türkei ist der Katalysator. Weil es um die Integration von 70 Millionen Muslimen geht, ist die Reaktion so heftig. Vor allem aber diskutiert die EU an der Türkeifrage ihre Zukunft.

Identitätsfindung geschieht in der Regel in Abgrenzung zu anderen. Also weiß die EU demnächst zwar, was sie sein will, aber die Türkei wird draußen vor bleiben?

Im schlechtesten Fall kann das so sein. Ich hoffe aber auf einen Transformationsprozess in der EU und der Türkei, der beide zusammenbringt.

INTERVIEW: JÜRGEN GOTTSCHLICH