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Archiv-Artikel

postproletarische körper Das Körperbewusstsein erweitern!

Mit der aus dem Punk entstandenen Industrial Music und dann der Technomusik deutete sich bereits akustisch an, dass es den „Working Class Hero“ bald nur noch auf der Bühne geben würde. Nun wird das Rampenlicht aber auch für die stummen – ehemals werktätigen – Massen obligatorisch: In der auf Sexappeal erpichten Gesellschaft wechseln ihre Körper sans phrase von der ersten zur zweiten Natur, jedoch nicht ohne Anstrengung, Keuchen und Schmerzen!

Dies gilt angeblich besonders in der neuen Hauptstadt: „Rasant schüttelt Berlin seinen zwischen strähnigen Haaren, Currywurst und Mielke-Mief angesiedelten Charme ab“, schreibt der Spiegel, „vom Grunewald bis nach Weißensee zieht sich eine neue Phalanx an Hübschmachern. Der Neu-Berliner wolle Botox statt Buletten, verrät der Schönheitschirurg Detlef Witzel, der im schicken Quartier 206 in der Friedrichstraße operiert.“ Botox wird unter die Haut gespritzt und glättet Falten, Buletten werden oral eingenommen und machen fett. Es sind beileibe nicht mehr nur die außer Form geratenen Ehefrauen reicher Männer, die sich chirurgisch runderneuern lassen, in der B.Z. waren es neulich eine Media-Kauffrau, eine Studentin, eine Bürokauffrau, eine Tabledancerin, eine Fitnesscenter-Trainerin und eine Kosmetikerin. Die jungen, unverheirateten Frauen mussten lange sparen, um ihr „Bodycontouring“ bezahlen zu können.

Andere PostproletarierInnen arbeiten erst mal allein an sich – im Solarium, in der Sauna und im Bodybuildingcenter, sie verschönern ihre Haut mit teuren Tattoos und Brillanten im Bauchnabel oder an der Nase, piercen sich Brustwarzen, Schamlippen oder die Zunge, joggen oder schwimmen jeden Morgen, experimentieren mit immer neuen Diäten und kämpfen, wo sie gehen und stehen, gegen die heimtückische Dehydrierung. So haben sich die legeren proletarisch-bürgerlichen Freibäder in Zürich quasi über Nacht zu Schönheitswettbewerbsbühnen gewandelt, die Wurstbuden zu Biokuchen-Bufffets und die Sprungbretter zu Siegertreppchen. Für die älteren Stammgäste mit vielleicht zu viel Bauch und Haaren an den falschen Stellen wurde darob ihr tägliches Entspannungsbad zu einer Art Spießrutenlauf.

Ist die Schönheit als „Königsweg zum schnellen sozialen Aufstieg“ (B. Guggenberger) einmal akzeptiert, unterwerfen sich Frauen wie Männer klaglos dem mühevollen „Beauty-Kult“. Deswegen werde auch schon bald der Gang zum Schönheitschirurgen so selbstverständlich sein wie ein Friseurbesuch, prophezeit ein Arzt dem Spiegel, in dem es zusammenfassend heißt: „Eine unduldsame Offensive gegen alles Hässliche hat die Nation gepackt. In Hannover verpasste ein Arzt einer 1-Jährigen bereits einen Traumbusen.“ Für die Neue Zürcher Zeitung ist dieser Volkswahn ein „ästhetischer Rassismus“, der Kassler Sozialphilosoph Ulrich Sonnemann subsumierte ihn unter die „Okkulartyrannis“, die es zu bekämpfen galt.

Derzeit wird jedoch stattdessen eher Wert auf eine In- und Extensivierung des körperlichen Empfindens gelegt – so als wolle man für seine ganzen Investitionen und Mühen nun auch einen anständigen Cash-Flow einheimsen, in Form von Bodysensations, inneren Ekstasen und Dauerorgasmen. Bereits im vergangenen Jahr förderte der Berliner PDS-Wirtschaftssenator mehrere „Striptease-Kurse“ – mit 80.000 Euro. Und kürzlich titelte die Bild-Zeitung: „Senat zahlt für perverse Fesselspiele.“ Diesmal war es der PDS-Kultursenator, der 100.000 Euro für „SM-Kurse“ rausrückte. Die New Yorker Village Voice widmete diesem „sex-positive weekend“ anschließend zwei lange Folgen. Das Event in der Kastanienallee hieß „Xplore04“ und bestand aus 45 Workshops, in denen es um „anale Vergnügen für Anfänger und Fortgeschrittene, Erotische Massagen … Atem- sowie Orgasmus- und Ejakulationsübungen“ ging.

Der amerikanischen Sexdozentin Tristan Taormino gelang es laut eigener Darstellung, in einem ihrer Kurse „einer Praktikantin namens Paula, die an einer Synthese zwischen Exhibitionismus, Piercing und Feminismus arbeitete, einen ziemlich dicken Stöpsel in ihren Arsch einzuführen“. Auch die anderen Kursteilnehmer waren es zufrieden, während die Übung eines deutschen Dozenten, in der jemand durch Fast-Erhängen zum Orgasmus gebracht wurde, sie eher abstieß: „So genau wollte ich das eigentlich gar nicht wissen“, meinte eine Physiotherapeutin aus Eisenhüttenstadt.

Am meisten beeindruckten auf der „Xplore04“ anscheinend die drei Kurse „SM und Zen: Schmerz, Durchlässigkeit, Hingabe“ des Oldenburger Professors Rudolf zur Lippe. In der Studentenbewegung war er vor allem bekannt geworden mit einem zweibändigen Werk über die „Naturbeherrschung am Menschen“, in dem er die Bühnentänze und Ballette der italienischen Renaissance sowie des französischen Absolutismus aus den jeweiligen Produktionsverhältnissen abgeleitet hatte. Inzwischen ist er jedoch offensichtlich eher an praktischen Körperübungen, wenn nicht an einer „Naturbefreiung am Menschen“ interessiert, „um die bürgerlichen Abpanzerungen auch sozusagen handfest aufzusprengen“, wie eine seiner Kursteilnehmerinnen, Tänzerin im Hauptberuf, vermutete. HELMUT HÖGE