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Archiv-Artikel

portrait Künstler mit Hang zum Gewöhnlichem

Tonio Kröger hat es nicht leicht: Er ist ein Schriftsteller, für den die Literatur ein Fluch ist. Ein Bürger, der glaubt, sich in die Kunst verirrt zu haben. Ein Künstler mit viel Berufserfahrung und nicht wenig Erfolg. Trotzdem schämt er sich für sein Künstlertum, ist er es oft genug leid, „das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben“, wie er sagt. Schon weit jenseits der dreißig, wird ihm diese Problematik immer drängender bewusst, geht sie ihm inzwischen an die Grundfesten seiner Existenz.

Geboren in den Siebzigerjahren des vorletzten Jahrhunderts als Sohn des steifen, immer sorgfältig gekleideten Konsuls Krögers und dessen lebenslustiger, manchmal ein wenig liederlich wirkender Frau Consuelo, wächst Tonio Kröger wohlbehütet in Lübeck auf. Er ist ein verträumter und schlaksiger 14-Jähriger, als er erstmals bemerkt, wie er sich unwiderstehlich hingezogen fühlt zu blonden und sportlichen Gleichaltrigen mit „stahlblauen Augen“, zu den Hans Hansens und Ingeborg Holms dieser Welt. Nur gehen diese oft genug gewöhnlichen Vergnügungen wie dem Reiten und Tanzen nach, während Kröger lieber Schillers „Don Carlos“ und Theodor Storms „Immensee“ liest. Da fällt die Annäherung beidseits schwer. Kröger weiß schon bald, dass er seinen Weg allein gehen muss, dass er „Möglichkeiten zu tausend Daseinsformen“ hat, diese jedoch unmöglich umzusetzen sind.

Nach dem Abitur verlässt Kröger seine Heimatstadt, die ihm zu eng und zu muffig geworden ist. Er zieht in das weltoffene und lichte München-Schwabing und macht Reisen noch weiter in den Süden, nach Italien. Bald ergibt er sich ganz der Macht des Geistes und der Worte, aber auch den Verlockungen des Sex und des Rock ’n’ Roll. Doch er fühlt sich schuldig, er leidet und sein Hauptproblem bleibt, Bürgerlichkeit und Künstlertum zusammenzubringen, das Leben und die Literatur. Um diesen genuin Krögerischen Widerspruch aufzulösen, auch um zu einem Vorbild für Männer wie Gustav Aschenbach oder Hans Castorp zu werden, zu einem Rollenmodell für alle Außenseiter, Bücherwürmer, Sensibelchen, Heimatlosen und anderweitig Beladenen dieser Welt, macht Kröger sich eines Tages wieder auf in den Norden: erst in die Heimat, dann nach Dänemark, wo er eine Art paradoxe Intervention unternimmt.

Noch einmal durchleidet er seine pubertären Verstrickungen, noch einmal trifft er die Hansens und Holms und erkennt schließlich, „daß es ein Künstlertum gibt, so tief, so von Anbeginn und Schicksals wegen, daß keine Sehnsucht ihm süßer und empfindenswerter erscheint als die nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit“.

GERRIT BARTELS