portrait : Der Liberale im Kreis der Konservativen
Seine Entourage erfasst seit Jahren immer wieder mal eine ganz spezifische Angst: Hoffentlich bleibt er wach! Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz und Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, ist eine notorische Leseratte und ein Arbeitstier vor dem Herrn, weshalb er nachts lieber dies und das noch liest, anstatt wenigstens ein bisschen zu schlafen – mit der Folge, dass man ab und zu bei öffentlichen Auftritten beobachten kann, wie des Kardinals Augenlider sanft nach unten sinken. Aber niemand nimmt ihm das übel. Denn der Mann ist beliebt.
So beliebt ist der kompakte Oberhirte, dass es Lehmann gestern schon im ersten Wahlgang mit Zweidrittelmehrheit gelang, erneut den Vorsitz der Bischöfe zu erringen. Es ist die dritte Wiederwahl seit 1987. Und wenn der 69-Jährige die Amtszeit nach sechs Jahren regulär beendet, wird er länger dem Episkopat Deutschlands vorgestanden haben als alle seine Vorgänger, die jeweils auch nicht gerade kurz amtierten. Lehmann darf schon jetzt eine der großen Gestalten des deutschen Katholizismus der Nachkriegszeit genannt werden.
Dabei hatte Lehmann es sich bis zuletzt offen gelassen, ob er noch einmal antritt. Schließlich ist der eher liberale Kirchenmann im immer konservativeren Bischofskollegium nicht unumstritten. Sein großer Antipode, Joachim Kardinal Meisner von Köln, hatte sich erst neulich öffentlich über Lehmanns gelassenes Diktum erhitzt: „Die Mädchen auf dem Petersplatz, die dem Papst zujubeln, haben die Pille in der Tasche.“ Das wisse man schon länger. Auch beim Weltjugendtag in Köln konnte es sich Lehmann nicht verkneifen, die Katholikentage, organisiert von Laien, zu loben. Meisner findet sie schrecklich. Lehmann mahnte, man dürfe sich nicht „in die Kirchen zurückziehen“. Meisner, neben ihm sitzend, ertrug dies alles, versteinert.
Aber Lehmann ist eben nach harten Kämpfen ein Mann von großer politischer Statur geworden, der kaum zu stürzen ist: Gegen seinen Duzfreund Joseph Ratzinger, nun Papst Benedikt XVI., und dessen Vorgänger Johannes Paul II. kämpfte der Mainzer seinerzeit für den Verbleib der deutschen Kirche im System der staatlichen Schwangerenkonfliktberatung. Immer wieder hielt der frühere Theologieprofessor dagegen, wenn die Konservativen unter seinen Kollegen allzu offen versuchten, die hiesigen Katholiken auf einen gestrigen Kurs einzuschwören. Auch deshalb ist die Erleichterung in der evangelischen Kirche, in der Politik und selbst bei hierarchiekritischen Gruppen wie der Kirchenvolksbewegung unüberhörbar, dass Lehmann den Job doch noch einmal geschultert hat. Obwohl er gelegentlich etwas mehr schlafen sollte. PHILIPP GESSLER