point 'n' click: Vom Spieler zum Autor ...
■ ... ganz nebenbei und in etwa 80 Tagen: Computerspiel „Myst“
Eine Insel im sanften Nebel, ein Wald, ein Berg, einige Gebäude, ein versunkenes Schiff und eine Rakete. So habe ich mir als kleiner Junge immer die verwunschenen Eilande vorgestellt, vor denen Kapitän Nemo mit seiner Nautilus geankert hat. Auf dessen Unterseeboot war ich in meinen Träumen ja immerhin Smutje!
Geheimnisvolle Technologie- Biotope voller bizarrer Maschinen, futuristischer Objekte, abstrakter Apparate. Keine Menschenseele weit und breit, die dir das phantastische Ambiente erklären könnte. Du bist auf dich allein gestellt in diesem Freilichtmuseum dahindämmernder Ingenieurskunst.
„Myst“ hat all das wahr werden lassen – jedenfalls fast. Der Spieler klickt sich mit der Maus durch einen Kosmos aus zwar starren, aber edel aufgemachten, äußerst detaillierten, photorealistischen 3-D-Graphiken, die schrittweise weitergeschaltet werden. Dem komplett für CD- ROM konzipierten Game sind konsequent alle Überreste von Schriftlichkeit ausgetrieben worden – es behötigt zur Steuerung nicht einmal mehr Befehlsverben oder Kommando-Icons; dennoch oder gerade deshalb dreht sich in „Myst“ alles um Lektüre.
Am Anfang wird der Spieler nämlich durch das Lesen eines Buches, das durch einen Riß im Raum-Zeit-Kontinuum ihm vor die Füße gefallen ist, in die Geschichte hineingezoomt. Vier weitere Bücher, die man auf der Insel findet, dienen als Pforten in myst-ische Paralleluniversen. Eine Bibliothek bildet das Zentrum des Adventures. Hier stößt man nicht nur auf die zur Lösung einiger kniffliger Puzzles notwendigen Hinweise in Form von Tagebuchaufzeichnungen eines früheren Reisenden inklusive Lageplänen und technischen Skizzen; integrales Spielziel ist es, zwei Schmöker durch das Einlegen verlorengegangener Seiten regelrecht zum Sprechen zu bringen.
„Myst“ verzichtet weitgehend auf eine konkrete Story oder Rahmenhandlung. Statt einer Anleitung ist dem Spiel einfach nur ein hübsch aufgemachtes Heft voller leerer Blätter beigelegt, in das man seine Beobachtungen notieren soll: „Imagine your mind as a blank slate, like the pages of this journal.“ Fiktion der Fiktion: Das vom Spieler gefüllte Heft wird am Ende dem Tagebuch gleichen, das man in der „Myst“-Bibliothek vorfindet. Indem man das Spiel löst, mutiert man ganz nebenbei selber zum Autor: „Record every scrap of evidence you find, no matter how insignificant it may at first appear. Words, numbers, pictures, patterns ... the form is not important.“
Die Insel selbst konfrontiert den Spieler mit lauter Schauplätzen, die – egal, ob Springbrunnen, Planetarium oder Turmuhr – mechanische Rätsel in sich bergen oder selber verkappte Apparaturen sind. Diese in Gang zu setzen bzw. hinter ihren Sinn zu kommen, ist eine der Hauptaufgaben des Spielers. Ein Vorankommen ist nur möglich durch das Lösen dieser Maschinenpuzzles, die sich als geschickt getarnte (und ebenso geschickt miteinander verzahnte) Denksportaufgaben entpuppen. Geheimtüren öffnen sich, Brücken über Abgründe entstehen, Schiffe steigen aus den Fluten.
„Myst“ hebt sich wohltuend von der Masse der für CD-ROM konzipierten Multimedia-Games ab. Bislang verführte der Massendatenspeicher viele Spieledesigner dazu, ihre Programme mit Animationen und Videosequenzen zuzuschütten, in der Hoffnung, das würde schon irgendwie als interaktiver Cyberspace- Spielfilm durchgehen. „Myst“ verfährt anders, subtiler, dosiert seine Effekte und findet zugleich eine neue Form der Präsentation: Gegen die alles hinwegspülende Flut bewegter Bilder setzt das Spiel auf die Wirkung jedes einzelnen Bildes. Unterstützt von einem ambienteartigen Soundtrack, erzeugt „Myst“ tatsächlich eine dichte Atmosphäre des Phantastischen, wobei gerade der Verzicht auf technische Mätzchen das Gefühl, „wirklich dort zu sein“, verstärkt. Das Game versteht sich (sozusagen) selber als Lektüre avant la lettre, verdichtet seine Graphiken zu einem nicht-linearen Bilderbuch, das den Spieler dazu einlädt, in jedwede Richtung weiterzublättern. „Myst“ ist ein lesbares audiovisuelles Kunstwerk, zugleich ein Beweis dafür, daß auf CD-ROM veröffentlichte Multimediaprodukte durchaus eine lyrische, meditative Note besitzen können. (Als Begleitlektüre empfehlen die Rezensenten „Morels Erfindung“ von Adolfo Bioy-Casares.) Frank Bitzer/
Ulrich Hölzer
„Myst“ (Broderbund) ist für Apple-Macintosh und IBM-kompatible PCs erschienen. Betriebsanforderungen für letztere: CD- ROM-Laufwerk, Soundkarte, Windows 3.1, Super-VGA, mindestens 4 MB RAM, Maus. 486er mit 33 MHz wäre optimal. Preis: ca. 120 DM
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