peter unfried über Charts: JuhuGysihuhuhuh – you make my dreams
Sind Sie alt? Prüfen Sie trotzdem neue Optionen. Zumindest beim Aufnehmen der Autoradio-Cassette „Sommer 2001“
IN Ich rannte sofort wie blöd zum Saturn, Alexanderplatz, und das hatte ich nun davon. Die neue Zoot Woman. Der Gitarrist von Madonna. Und noch zwei. Muss man haben, wenn man die Autoradio-Cassette des Sommers 2001 aufnehmen will.
Living in a magazine. Fashion Pop. Es geht um die Frage des Sicheinrichtens in der Welt der Lüge und des Scheins. Super. Stand in Spex. Wie? Natürlich bin zu alt für so was. Genauso wie ich zu alt für Berlin-Mitte bin. Bin ja schon längst im Kreuzberg-Alter.
Würde mich auch nie mehr trauen, Spex am Kiosk zu kaufen. (Von de:bug nicht zu reden.) Aber im Café Marx am Spreewaldplatz unter lauter Gleichalten schmuggelte ich eine uralte Ausgabe zwischen Maxim und konkret und wartete, bis es dunkel wurde. So erfuhr ich: Zoot Woman ist die Musik dieses Sommers. The image ist real. Selling a lie. Aha. Die Vision der Metropole. Der Glanz der Friedrichstraße und des Gendarmenmarktes, dieses mondäne Leben zwischen Trenta Sei und Löwenbräu-Bierhaus.
Ein trügerischer Glanz? Folgender Satz wurde mir zugemailt: Glamour ist das Land, in dem man nie ankommt. Das wisse ja schon der Volksmund (das ist offenbar seit ein paar Monaten ein gewisser Beigbeder).
Natürlich: muss man hinter die Fassaden dieser ultramodernen Welt schauen. Genauso wie man hinter Gregor Gysi schauen muss, bevor man sich hinterher dumm und dämlich ärgert, weil da gar nichts ist bzw. man dem Kommunismus Tür und Tor geöffnet hat. Um ihn dann trotzdem zu wählen. I’m gonna change this city (Zoot Woman).
Einem Freund gemailt: Betr. Repolitisierung. Text: Stefan, diesen Sommer gilt es! Neue Optionen prüfen. Politisch. Und beim Cassetten-Aufnehmen.
Die Antwort: Sehr gut! Ich hätte bei Dir nicht mehr damit gerechnet. An eine echte Wandlung glaube ich erst, wenn ich die Cassette gehört habe.
Na, warte mal ab, du Arsch. Gegen die Diktatur der Angepassten. Das ist Blumfeld. Neue Platte: Testament der Angst. Muss offenbar unbedingt auch auf die Cassette. Männer, Frauen, Junge, Alte. Leben ihre Lügen, lassen sich für dumm verkaufen. Genau. Und das auch noch von den eigenen Leuten (Kosovo. Kernkraft. Kühe).
Maile: Das Unbehagen artikulieren, grade in Zeiten des rot-grünen Bündnisses. Bevor es zu spät ist.
Die Antwort: Wir verachten unsere Politiker dafür, dass sie nichts tun und denken, das sei irgendwie schon genug.
Maile: -???-
Die Antwort: Ach. Den neuen Nick Hornby etwa nicht gelesen?
Die Liste der besten Songs des Sommers 2001 steht eine Nacht später sowie xxx Flasche(n) Spätburgunder von Suff, Oranienstraße, leerer.
Hier ist diese Liste.
1. Kiss on my List.
2. You make my dreams
3. Private Eyes.
4. I’m in pieces
5. Did it in a minute
6. Your imagination
7. Italian girls
8. Dreamtime (Hall solo)
9. Out of touch
10. Rich Girl
11. Wait for me (live)
12. Friday let me down
13. Possession obsession
14. Mano Mano
15. Adult education
16. Maneater
17. Every time you go away.
18. I wasn’t born yesterday (Hall solo)
19. Delayed reaction
20. Foolish pride (Hall solo)
Bonus Track: The way you do the things you do.
Ich mailte die Liste. Die Antwort: Wo sind Zoot Woman? Wo Blumfeld? Wo Weezer?
Weezer? Ich prüfte es nach. Tatsächlich. Alle Songs waren von Daryl Hall & John Oates.
Wer sind gleich wieder Daryl Hall & John Oates? Erfolgreichstes Duo der Popgeschichte. Philadelphia Blue Eyed Soul (dt., blauäugige Seele), gestohlen von den handarbeitenden schwarzen Brüdern und verfremdet zum hochtechnisierten Großstadt-Pop im Beat der Industriemaschinen bzw. im Möchtegern-Vögel-Groove der weißen Mittelschicht (Big! Bam! Boom!).
Beste Zeit: Ende 70er bis nicht ganz Mitte 80er. Thema: Liebe in einer komplex gewordenen ultramodernen urbanen Welt. Ausführung? In der besten Phase: Juhuhuhuhuh – you make my dreams come true. Ab Mitte dreißig wurden sie dann aber natürlich trübsinnig (Some things are better left unsaid). Zoot Woman sind übrigens ihre Erben. Die Hall & Oates von heute.
Maile: Bin offenbar doch noch nicht mehr bereit für die Schattenseiten des Lebens (Zoot Woman), den eitlen Glamour (Gysi), die Kehrseiten des Pop (PDS) und diese ganze Repolitisierungssache da. Kurz: Ich bin ein verdammtes Retroprojekt.
Die Antwort: Und?
Maile: Letztlich muss ich wieder grün wählen. Scheiße.
Die Antwort: Arme Sau.
OUT Autoradio-Cassetten aufnehmen. (Anm. d. Red.)
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