peter ahrens über Provinz: Ein Zug von Revolte im Bahnhof von Nienburg
Pausen, Bomben, Autobus. Wie Hartmut Mehdorn beinahe Arnulf Baring eine große Freude gemacht hätte
Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen ein Nikolaus in den Puff ging, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. Den Nikolaus gab damals mein alter Pastor, der es liebte, zur Untermalung des Gotteswortes in diverse Rollen aus der Bibel zu schlüpfen. Zur Perfektion brachte er es alljährlich im Gottesdienst beim Vortrag der Passionsgeschichte, wo er mal eben der Gekreuzigte war, rechts durch eine Tür verschwand und links unter Brimborium als der hinterfotzige Kaiphas wieder auftauchte. Die Menge war beeindruckt und zahlte auch im kommenden Jahr ihre Kirchensteuer. Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.
Über das Bodenpersonal der katholischen Kirche herzuziehen ist auf Partys und Weihnachtsfeiern beinahe so ein Hit wie das In-den-Schmutz-Zerren der Deutschen Bahn. Allzu gern werden Schwänke über abgeschaffte Speisewagen und Mitropa-Beamtenmentalität zum Besten gegeben. Man muss nur das neue Preissystem des Herrn Mehdorn geißeln, und viele neue Freunde sind billig gewonnen. Bisher habe ich mich nie daran beteiligt. Bisher.
Letzens fiel mir ein, übers Wochenende die westfälische Heimat aufzusuchen. Also Freitag, 19.33 Uhr planmäßige Abfahrt des IC Wolfgang Borchert von Hamburg-Altona, umsteigen in Osnabrück und Herford, Ankunft Paderborn 23.41 Uhr. Der Zug fährt also pünktlich um 19.48 Uhr in Altona ab und macht im Hamburger Hauptbahnhof erst mal ausgedehnte Pause. Was denn mit dem Anschlusszug ab Osnabrück ist? „Tja, der ist natürlich wech“, bescheidet der Zugbegleiter ohne Bekümmern in der Stimme. „Aber Sie können von dort gern den eine Stunde später ab 22.48 Uhr bis Herford nehmen.“ Arglos rückgefragt: „Und fährt ab Herford denn dann noch ein Anschluss weiter nach Paderborn?“ Kursbücher werden gewälzt. „Nee, da geht goar nix mehr.“
In Osnabrück werden „Umsteiger Richtung Paderborn“ gebeten, auszusteigen und den Zug nach Bielefeld zu nehmen – „dort wenden Sie sich an den Service Point“. Wolfgang Borchert fährt ohne mich weiter, ich steh’ draußen vor der Tür. Der Zug nach Bielefeld fährt in 45 Minuten und kommt gegen Mitternacht dort an. Der Service Point ist längst geschlossen, aber ein Diensttuender fertigt mir einen Taxischein über 80 Euro nach Paderborn aus. „Wenn es mehr kostet, müssen Sie den überzähligen Betrag selbst bezahlen.“
Rückfahrt am Sonntag, Wochenendticket. Bis Herford geht alles gut. Der Anschluss nach Rotenburg (Wümme) fährt allerdings nur bis Minden, da im 100 Kilometer entfernten Bahnhof Osnabrück eine alte Fliegerbombe entschärft wird. Ich beginne, mir um den Geisteszustand des Herrn Mehdorn Sorgen zu machen. Vielleicht war das mit dem neuen Preissystem alles ein bisschen viel für ihn.
„Bis Nienburg wird Ihnen ein Schienenersatzverkehr bereitgestellt“, wird uns mitgeteilt. Die Stimmung im reisenden Volk ist gespannt bis ausgelassen. „Ihr könnt ja die Bahn verklagen“, rät uns der Busfahrer gut gelaunt, „aber den Prozess verliert ihr, das kann ich euch jetzt schon sagen.“ In Nienburg ist der Anschluss nach Rotenburg lange weg, doch in 30 Minuten kommt ein Zug über Verden nach Bremen, heißt es. Der Zug kommt tatsächlich, es ist jedoch der Interregio aus Dresden, für den das Wochenendticket nicht zugelassen ist. Der Zugbegleiter, ein wackerer Sachse, besitzt die Naivität, die wogende Masse auch noch auf diesen Umstand hinzuweisen. Kurz bevor der Mann mit seiner begrenzten ostdeutschen Lebenserfahrung feststellen darf, dass Revolutionen in Deutschland nicht zwangsläufig friedlich ablaufen müssen, stürmen 200 Leute an ihm vorbei und entern die Waggons. „Sollen sie uns doch alle rausschmeißen“, ertönt die Musik der Revolte. Das Herz von Professor Baring hätte im Leibe gehüpft.
Der Sachse resigniert, der Zug fährt ab. Von da ab läuft alles glatt. Bis Hamburg kein Entgleisen, keine Bombe, nur der übliche Wochenendticket-Hintergrundsound zwischen „Leander, du setzt dich neben Opa“ und „Ey, hab Arkans Schwester gesehen, solche Titten!“ Zum Glück muss ich nicht nach Delmenhorst, denn dorthin fahren „an diesem Wochenende wegen umfangreicher Bauarbeiten gar keine Züge“.
Kurz vor dem Ziel ruft mir noch eine fröhliche Stimme hinterher: „Dieser Zug hält außerplanmäßig heute in Hamburg Hauptbahnhof und fährt wegen Bauarbeiten nicht bis Altona.“ Ich blättere in der kostenlos ausliegenden Kundenzeitschrift Takt – die Nahverkehrszeitung der Bahn, wo in einem Artikel die Autostadt in Wolfsburg propagiert wird: „Im Kundencenter können täglich 700 Kunden ihren neuen VW abholen“, steht da. Das ist eine Überlegung wert.
fragen zu provinz? kolumne@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen