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orte des wissensErst integriert, dann dezimiert

Die Online-Plattform „Frisia Judaica“ informiert über jüdisches Leben in Friesland und Umgebung

Es ist ein angenehm handlicher, klug konzipierter Ort der Orte: Die Online-Plattform „Frisia Judaica“, im Oktober 2024 ins Netz gegangen, bietet neben Karten auch Zeichnungen alter Stadtansichten, dazu historische und aktuelle Fotos von Synagogen, Friedhöfen, Stolper- und Gedenksteinen. 13 ehemalige Synagogengemeinden von Groningen über Emden, Aurich und Leer bis Wilhelmshaven, Varel und Jever sind dort verzeichnet, denn es geht hier um ganz Friesland bis ins Oldenburger Land hinein.

Das Besondere an der Region sei, sagt Mit-Initiator Stephan Horschitz, „dass in dieser Gegend vor 1933 prozentual mehr jüdische BürgerInnen lebten als im übrigen Deutschen Reich“. Das lag daran, dass die friesischen Grafen seit dem 16. Jahrhundert etliche jüdische Glaubensflüchtlinge aus den benachbarten Niederlanden aufnahmen. Besonders gern gesehen waren Kaufleute, die etwa den wirtschaftlichen Aufschwung Emdens mitgestalteten. Und in Dornum holte man laut Homepage nach der Weihnachtsflut von 1717 sogar gezielt jüdische Handwerker in den Ort, um beim Wiederaufbau zu helfen. Auf dem Land wiederum hätten etliche jüdische Viehhändler gelebt, „und das meist sehr gut integriert; man lebte ja Tür an Tür“, sagt Horschitz.

Umso eigenartiger, dass das jüdische Leben in Ostfriesland nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten besonders schnell verschwand. Das sei, sagt Horschitz, auch auf den schon in den 1920er-Jahren hohen Anteil an NSDAP-Sympathisanten zurückzuführen sowie auf den Einfluss der ultrarechten, antisemtischen damaligen „Landvolk“-Bewegung.

All dies wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch in Ostfriesland rund 40 Jahre lang totgeschwiegen. Der vom Kommunalverband „Ostfriesische Landschaft“ 1988 herausgegebene Band „Frisia Judaica. Beiträge zur Geschichte der Juden in Ostfriesland“ war die erste systematische Dokumentation einstigen jüdischen Lebens in der Region.

Danach passierte lange nichts; bis sich 2013, zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht, 17 Kultureinrichtungen – Synagogengemeinden und Museen – zum Projekt „Reisen ins jüdische Ostfriesland“ zusammenfanden, das mit Ausstellungen, Vorträgen und Exkursionen die Erinnerungsarbeit belebte. Horschitz war schon damals mit dabei und freut sich, mit der am 14. Oktober 2024 online gegangenen Plattforn „Frisia Judaica“ eine weit größere Reichweite für Erinnerungskultur und Information zu haben. Auch könne die Plattform Recherchehilfe für Menschen sein, die nach ehemaligen Angehörigen in Ostfriesland suchten.

Die auf der Homepage mit den Orten verlinkten Texte reichen von den Anfängen jüdischen Lebens in der Region bis zur Erinnerungskultur. Dazu kommen, unter der Rubrik „Forschung“, Texte zu einzelnen Aspekten wie jüdische Vereine in Ostfriesland oder Antijudaismus im historischen Ostfriesland.

„Natürlich sind wir keine Historiker“, sagt Horschitz. Aber gründlich recherchiert und formal korrekt inklusive Quellenangabe seien die Texte schon. Bald wolle man auch einen Podcast starten, „in dem wir erklären, wer wir sind und was wir tun“, sagt Horschitz. Wozu auch Ausstellungen und Vorträge etwa über das Erstarken der Neuen Rechten gehören.

Nach der Machtübergabe an die NSADP verschwand jüdisches Leben irritirend schnell

Zusammengehalten wird der lose Verbund von kooperierenden Synagogengemeinden, Museen und Vereinen von den drei Initiatoren: Welf-Gerrit Otto, Leiter der Kulturagentur der Ostfriesischen Landschaft, Blogger Matthias Süßen und Stephan Horschitz, für Kulturtourismus am Schloss Jever sowie für das Museum im Landrichterhaus Neustadtgödens zuständig.

Diese Konstruktion senkt die Kosten enorm: Otto und Horschitz sind anderweitig fest angestellt, mit Stundenkontingenten für „Frisia Judaica“. Blogger Süßen betreibe die Homepage unentgeltlich auch aus Eigeninteresse, sagt Horschitz. für den Server der Online-Plattform zahlt die Ostfriesische Landschaft. Und das zeitlich unbegrenzt. Petra Schellen

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