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orte des wissensKampf gegen 8.000 Unbekannte

Das neue Lübecker Zentrum für seltene Erkrankungen will auch den davon betroffenen Pa­ti­en­t*in­nen gerecht werden und vernetzt gezielt Spe­zia­lis­t*in­nen verschiedener Fachrichtungen

Als sie mit Nierenversagen ins Krankenhaus kam, war Greta (Name geändert) zehn. Insgesamt drei Monate musste sie danach in Kliniken verbringen und bis zu 28 Tabletten am Tag nehmen, von denen viele starke Nebenwirkungen hatten. Und das war ihr Glück.

Denn in ihrer norddeutschen Heimatstadt dachten die Ärz­t*in­nen zuerst, das Blut in ihrem Urin sei Regelblut, und wollten sie schnell wieder heimschicken. Ihr Kinderarzt dagegen überwies sie zu einem Spezialisten und an das Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE). Dort fanden die Ärz­t*in­nen heraus, dass Greta eine C3-Glomerulopathie hat, eine Nierenerkrankung, die so selten ist, dass nur zwei bis drei unter einer Million Menschen daran erkranken.

Greta hatte nicht nur Glück, weil sie schnell eine Diagnose und Behandlung bekam. Ihre Eltern nutzten die Zeit im Krankenhaus auch, um die Erkrankung ihrer Tochter zu verstehen. Diese Expertise habe ihm in Gesprächen mit der Krankenkasse geholfen, erzählt ihr Vater. Denn die Behandlung, die ihr heute ein unbeschwertes Leben ermöglicht, kostet die Kasse 400.000 bis 500.000 Euro im Jahr. Alle neun Wochen bekommt sie eine Infusion. „Wir sind unglaublich froh, dass bei uns die Kosten kein Ablehnungsgrund sind. Das ist in vielen Ländern anders.“

Bei seltenen Erkrankungen sind die Behandlungskosten oft sehr hoch, weil die Medikamente für nur wenige Menschen entwickelt wurden. Nicht immer gibt es überhaupt eine Behandlung. Dabei sind vier Millionen Menschen in Deutschland von den ungefähr 8.000 seltenen Erkrankungen betroffen, zusammen genommen sind sie eine Volkskrankheit. Dabei seien auch Erkrankungen wie Parkinson, MS oder Schlaganfälle „in ihrer Ausprägung sehr individuell und vielfältig“, sagt der Neurologe Alexander Münchau.

Münchau leitet das Zentrum für seltene Erkrankungen am Uniklinikum Lübeck. Es gründete sich 2013 als Zusammenschluss verschiedener Einrichtungen und ist eines der ersten Zentren für das Thema. Ein „Nationaler Aktionsplan für Menschen mit seltenen Erkrankungen“ des Gesundheitsministeriums sollte den Aufbau solcher medizinischer Netzwerke unterstützen. Geld gibt es für die Arbeit des Zentrums erst seit 2020, seit nach einer Reform Kliniken nicht mehr nur mit Fallpauschalen bezahlt werden, sondern auch mit einer Pflege- bzw. Vorhaltekostenvergütung.

Das Zentrum in Lübeck ist über eine Akademie, Konferenzen und ein nationales Register vernetzt. Das kann Leben retten. Denn für die seltenen Erkrankungen gibt es meist nur wenige Spezialist*innen. Einzelne Fach­ärz­t*in sind da oft überfordert. Das Zentrum bringt Spe­zia­lis­t*in­nen für Lunge, Nerven, Niere, Krebs oder Immunerkrankungen zusammen. In unserem Beispiel etwa mussten in Hamburg Nieren- und Im­mun­spe­zia­lis­t*in­nen eng zusammenarbeiten. Die Me­di­zi­ne­r*in­nen diskutieren eine Krankenakte dann in Fallkonferenzen. In dem Lübecker Zentrum treffen sich außerdem Selbsthilfegruppen.

Die Behandlung seltener Erkrankungen ist teuer, weil die Medikamente für wenige Menschen entwickelt wurden

Der Austausch zwischen den Fach­kol­le­g*in­nen verschiedener Disziplinen sei sehr wichtig, sagt Münchau. „Beim Bau eines Hauses arbeiten ja auch verschiedene Gewerke zusammen.“ Er wünscht sich einen grundlegenden Wandel im Gesundheitssystem. „Das Problem ist, dass wir in den 1990er-Jahren entschieden haben, es privatwirtschaftlich umzubauen. Das widerspricht der Natur der Medizin.“

Und es ist ein Problem für seine Patient*innen. Denn mit Therapien für seltene Krankheiten lässt sich meist nicht viel Profit erzielen. Trotzdem forschen die Mediziner*innen, die in seinem Lübecker Zentrum organisiert sind. „Das liegt einfach in ihrer DNA“, sagt Münchau. Damit Kinder wie Greta wieder gesund werden können. Friederike Grabitz

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