off-kino: Filme aus dem Archiv – Frisch gesichtet
Kleine trostlose Häuschen an Bahngleisen, die vom Dampf der Lokomotiven eingehüllt werden, eine hässliche Fabrik, schäbige Mietskasernen: Nicht zuletzt auf die Bauten des Filmarchitekten Alexandre Trauner lässt sich die in Marcel Carnés „Le jour se lève – Der Tag bricht an“ (1938) vorherrschende melancholische Verliererstimmung zurückführen. Der Klassiker des poetischen Realismus führt den Zuschauer in ein tristes Vorstadtviertel zu einer Figur ohne Zukunft: Nach dem Mord an dem Verführer seiner Verlobten verschanzt sich ein einfacher Arbeiter (Jean Gabin) vor der Polizei in seinem kleinen Zimmer, wo er die Ereignisse der letzten Tage rekapituliert und sich schließlich seinem Schicksal ergibt. Der resignative Grundton machte die von Jacques Prévert erdachte Geschichte in der Blütezeit des Film noir auch für Hollywood attraktiv: 1947 entstand unter dem Titel „The Long Night“ ein Remake von Anatole Litvak mit Henry Fonda in der Hauptrolle.
Dass Prévert und Carné auch anders konnten, hatten sie allerdings zuvor mit „Drôle de Drame – Ein sonderbarer Fall“ bewiesen, einer absurden Groteske mit surrealem Humor: Da gibt es einen angesehenen Botaniker (Michel Simon), der unter Pseudonym Krimis verfasst, einen vermeintlichen Mord an seiner Frau und einen Kommissar, der seine Fälle immer im Schlaf löst. Die schönste Figur ist jedoch zweifellos der von Jean-Louis Barrault verkörperte Serienkiller William Kramps: ein sensibler, unentwegt redender Mann, der ausschließlich Schlachter ermordet. Sein Motto lautet: „Ein wenig Geld, ab und zu ein Metzger, ein wenig Sonne, ein wenig Liebe“
„Drôle de Drame – Ein sonderbarer Fall“ (OmU) 3. 3.; „Le jour se lève – Der Tag bricht an“ (OmU) 5. 3. im Arsenal 2***In gedanklicher Nähe zum poetischen Realismus lassen sich auch die wenigen Werke des französischen Regisseurs Jean Vigo ansiedeln, der bei seinem Tod 1934 mit „L’Atalante“ nur einen einzigen abendfüllenden Spielfilm hinterließ. Wie bei den Filmen von Prévert/Carné besticht die Geschichte von Liebe und Missverständnissen eines auf einem Kahn lebenden ungleichen Paares weniger durch Handlungsreichtum als durch die genaue Schilderung des Hafenmilieus und die Poesie der kleinen alltäglichen Dinge. Bekannter noch als „L’Atalante“ ist Vigos 1933 entstandener Kurzspielfilm „Betragen ungenügend“, der von der Verschwörung einiger Schüler in einem Internat erzählt, wo sie unentwegt den Gemeinheiten der Aufseher und Lehrer ausgesetzt sind. Doch die kleinen Rebellen rächen sich furchtbar und lassen ein würdiges Fest mit dem Schulpräfekten in einem Hagel von Wurfgeschossen untergehen. Von der französischen Zensur wurde die fantasievolle Anarcho-Story (Vigo war der Sohn des bekannten Anarchisten Almereyda) derart ernst genommen, dass sie bis 1945 verboten blieb.
„Atalante“ (Om engl.U) 28. 2.; „Zéro de conduite“ (Om engl.U)1. 3. im Arsenal 2***Ganz ohne Kinder kommt Ben Verbongs amüsanter Kinderfilm „Das Sams“ aus. Anstelle quirliger Kids gibt es ein rothaariges korpulentes Fantasiewesen mit Schweinsnase, das hemmungslos allen Gelüsten und Spontaneingebungen nachgibt: das Sams (Christine Urspruch), jene vom Schriftsteller Paul Maar erdachte Verkörperung des Prinzips Kind in Reinkultur. Selbiges trifft in einer beschaulichen Kleinstadt auf den angepassten Regenschirmkonstrukteur Herrn Taschenbier (Ulrich Noethen), der in der Bekanntschaft mit dem peinlich-netten Sams das Kind in sich selbst wiederentdeckt; vor allem als er bemerkt, dass das Sams Wunschpunkte besitzt. Das Wunscherfüllungsprogramm ist von Regisseur Verbong sehr witzig in Szene gesetzt, immer unterstützt von den erstklassigen Schauspielern.
„Das Sams“, 28. 2.–6. 3. im Rollberg 3, Broadway D; 2. 3.–3. 3. im Thalia Movie Magic 3
LARS PENNING
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