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Archiv-Artikel

nuscheln mit hitler von MICHAEL RINGEL

Lippenleser seien bei mir suizidgefährdet, behauptet meine Frau. Nur weil ich nicht bereit bin, mit weit aufgerissenem Mund und dröhnender Stimme jedes Wort herauszuschreien, werde ich als Nuschler abgestempelt von ihr, die sich neuerdings darauf verlegt hat, mich zu imitieren: „Escheschesch Emmemmemm Hitler!“ – „Hitler? Wieso Hitler?“, frage ich dann irritiert zurück: „Du hast schon wieder genuschelt. Ich habe keine Wort verstanden. Außer am Schluss Hitler!“ – „Aber ich habe doch gar nichts über Hitler gesagt.“ – „ Du hast wahrscheinlich überhaupt gar nichts gesagt.“

Angeblich nuschel ich. Ich bekomme die Zähne nicht auseinander und spreche mit steifer Lippe, heißt es. Was ich vehement bestreite. Ich muss zwar manche Dinge zwei- oder dreimal beantworten, weil ich ständig „Wie bitte?“ oder „Waaas?“ gefragt werde. Aber ich nuschel nicht! Ich rede kristallklar und diamantdeutlich, und die meisten Menschen haben ihre Ohren nur auf Durchzug gestellt. Jedenfalls würde ich nie zugeben, dass ich nuschel. Obwohl ich es ein einziges Mal getan habe, um mein Leben zu retten.

In der Berliner Redaktion hängt eine große Wandtafel mit Kopien vom „Ausschnittdienst“. Ein Service, der dafür bezahlt wird, dass er Artikel aus fremden Zeitungen ausschneidet, die eigene Texte zitieren. Ein internes Barometer der Eitelkeiten, das anzeigt, wie man selbst und wie Kollegen von Fremdmedien wahrgenommen werden.

Als ich wieder einmal den „Ausschnittdienst“ studiere, erscheint eine junge, blonde Praktikantin und pinnt frische Kopien ans Brett. Mit der freundlichen Bemerkung „Ah, Neues vom Ausschnittdienst!“ begrüße ich die Jungkollegin und bin leicht verwirrt, als ihre Antwort ein verkniffener Seufzer ist. Was ich allerdings wenig später verstehe, als im hauseigenen Intranet eine Rundmail verbreitet wird. Eine Mitarbeiterin der Werbeabteilung schreibt empört im Namen der jungen Dame: „Eben hat im Konferenzraum jemand unsere Praktikantin gefragt, ob sie ‚die neue Maus vom Dienst‘ ist. Das ist doch das Letzte!“

Wer einmal in den Sexismus-Verdacht gerät, muss schnell handeln. Jetzt hilft nur noch eine Entschuldigung: dass es einem Leid tue, wenn man so verstanden worden sei, man habe aber nicht etwa „die neue Maus vom Dienst“, sondern „Neues vom Ausschnittdienst“ begrüßt. Und dann wird die letzte Waffe des Mannes eingesetzt: das schonungslose Bekenntnis zu einer körperlichen Schwäche, das verzeihen einem Frauen immer: „Ja, ich nuschel leider!“

Die Welt will eben lieber Märchen hören. Wie sich auch kürzlich in Frankfurt zeigte. Ich saß mit einigen Kollegen zusammen, als eine mir völlig unbekannte Person eine mir nicht ganz unbekannte Geschichte erzählte von „einem Nuschler und der Maus vom Dienst“. Begleitet vom Gegacker besonders der Damen erklärte der Märchenerzähler, dass der sagenhaft dumme Tropf wohl versucht habe, bei der Praktikantin zu landen, aber keine Chance hatte, weil er „der größte Nuschler aller Zeiten“ war. Als das Gelächter schließlich abebbte, war die Runde dann doch etwas irritiert, dass ich nicht mitfeixte, sondern laut und deutlich vor mich hin sprach: „Das war der Hitler! Der Hitler!“