normalzeit : HELMUT HÖGE über Vermischtes
Zwischen den Häuserzeilen lesen!
Fußgängerzone Wilmersdorfer Straße, zwei Mädchen, die eine trägt ein weißes T-Shirt, es fängt an zu regnen, sie sagt: „Du … Schantal … isch werd durschsischtisch!“
In der U-Bahn der Linie 2, ein Mann steht in der Tür und telefoniert: „Wir sind jetzt auf der Höhe Mohrenstraße, in gut zwanzig Minuten am Zoo, nein, ist mir nicht zu weit, eben sind auch noch ein paar Leute zugestiegen …“ Als er sich umdreht, sieht man, dass es sich um einen verschmitzten Penner handelt, der mit seiner leeren Bierdose am Ohr gesprochen hat. Da klingelt bei einem Mann neben ihm tatsächlich das Handy, er sagt zu dem Anrufer: „Ja, ich bin jetzt am Bahnhof Mohrenstraße …“ Alles lacht.
Köpenick, eine Schulklasse kommt aus der Gedenkbibliothek Lucie Großer: „Kein einziger Computer, alles ist auf Karteikärtchen – voll krass!“
Borcherts in Mitte, ein Bildhauer und ein Chirurg unterhalten sich. Ersterer sagt: „Ein Gesicht aus Marmor zu formen bedeutet, vom Stein alles zu entfernen, was nicht Gesicht ist.“ Letzterer sagt: „Ja, und bei einer Schönheitsoperation ist es genau umgekehrt.“
Dalmatija Grill in der Müllerstraße, der Wirt übersetzt einem deutschen Gast eine Nachricht aus einer kroatischen Exilzeitung: „An den Plitvicer Seen ist man auf eine bislang unbekannte Villa des ehemaligen Präsidenten der SFRJ, Josip Broz Tito, gestoßen, die unter der Zahl 99 chiffriert war. Entdeckt wurde die Villa mit 60 Zimmern von der kroatischen Regierung nach Abschluss der von der Militärpolizei durchgeführten Aktion ‚Gewitter‘. In der Villa befindet sich ein Atombunker mit Fluchttunnel. Hier kamen Nasser und Nehru zusammen, die Führer der Blockfreien, um die wesentlichen Entscheidungen über das Schicksal der Länder in der Dritten Welt zu treffen. Die Villa befindet sich derzeit in schlechtem Zustand und wird größtenteils von wilden Tieren bewohnt.“
R. Kapuscinski bummelt durch Berlin und studiert die Schaufenster der Buchläden: „Es gibt dort nur noch eine Sorte Bücher: ‚Opposition gegen Hitler‘.“ Daraus geht hervor, wie die Geschichte wirklich war: „Es gab da einen verrückten Einzelgänger. … Es gab keine Anhänger: Es gab nur den Verrückten Hitler und die Opposition gegen ihn.“
Hans Christoph Buch wird nach Indien eingeladen, um dort einen Vortrag über „Die Krise in Deutschland“ zu halten: „Sie haben sich das angehört, dann aber gesagt, bei ihnen sei die Krise noch viel schlimmer …“
Zwei Exiltuareg erklären einem Marzahner in der S7 nach Ahrensfelde das nomadische Lebensgefühl: „Mein Vaterland ist dort, wo Regen fällt“, sagt der eine, und der andere: „Unsere Landwirtschaft sind Überfälle.“
Um den Krach der Skateboarder an der Neuen Nationalgalerie zu unterbrechen, organisiert das MoMA einen Workshop zur Aufklärung der Kids: „Die Erfindung verdankt sich einem 1968 in Berkeley relegierten Chemiestudenten, der für die Räder ein Plastik erfand, das weich war, aber kaum Abrieb hatte. Mit dem Skateboard wurde es möglich, das Lebensgefühl von Surfern auch im Landesinnern zu entwickeln. Aber bald verbannten die Geschäftleute alle Skateboarder aus den Einkaufspassagen und -zonen. Pfiffige Zementfabrikbesitzer kamen aber auf die Idee der ‚Skate-Parks‘, wo sie den Kids gegen Eintritt geradezu ozeanische Betonwellen zur Verfügung stellten. Wegen ihrer Gefährlichkeit schlugen die amerikanischen Mütterverbände Alarm. Erst als einige Plastikfabrikbesitzer Ellenbogen-, Kopf- und Knieschützer in futuristischen Formen und geilen Farben produzierten – und diese in den Skate-Parks sogleich obligatorisch wurden –, beruhigten sich die Mütter wieder. Nun spaltete sich aber die inländische Skater-Scene: in angepasste Techniker und wilde Rüpel. Letztere okkupierten erneut die öffentlichen Plätze, wobei sie jedoch ein Gespür für strategische Orte entwickelten sowie für selbst gebaute ‚Wellen‘ aus Kistenbrettern und Steinen. Als Kenner der Wellen ist der Surfer inzwischen Vorbild für unser eigenes Gleiten auf Oberflächen geworden.“
W. H. Auden schrieb, dass „Goethe in den letzten 25 Jahren seines Lebens eine internationale Touristenattraktion war … und ein Besuch bei Goethe ein ebenso wichtiger Punkt im Reiseplan war wie die Besichtigung von Florenz und Venedig“. Berliner Tourismusexperten gehen unterdessen davon aus, dass hier der Mauertourismus ebenfalls 25 Jahre – gezählt vom Tag des voreiligen Mauerabrisses – andauern wird.