normalzeit: Maus und Stau
Attraktiv?
Es gibt eine Ökonomie der Attraktivität. Man macht sich attraktiv, manchmal mit erheblichem Aufwand, um jemanden zu finden – zu gefallen, und wenn das geklappt hat, dimmt man seine Anziehungskraft klammheimlich runter, um sich konzentriert „dem feindlichen Leben draußen“ widmen zu können. Bisher war dieses Spiel eine Domäne der Jungen – bis sie heirateten. Danach war der Mann nur noch mit Geldverdienen beschäftigt – und wurde immer dicker und hässlicher. Ähnliches galt für die Frau, die langsam von ihren Kindern ausgesaugt wurde.
Dieses A-Modell ist immer weniger wert. 1. Halten die Ehen nicht mehr so lange, 2. verzichtet man aus A-Gründen gerne auf Kinder, weil 3. in den postmodernen Berufen eher Attraktivität als Erfahrung verlangt wird. Dadurch kommt es zu einem ständigen Auf- und Abbau der Attraktivität. Marilyn Monroe hat einmal behauptet, sie könne ihre Attraktivität wie ein Lichtschalter an- und ausknipsen. Bei „Aus“ könne sie sich wie ein graues Mäuschen auf der Straße bewegen, bei „An“ würde sie dagegen fast Verkehrsstaus hervorrufen.
Die Analogie von Glühbirne und Attraktivität – in seiner schönsten Form schon vom orthodox-revolutionären Priester Pawel Florensky zum System erhoben – soll hier nicht interessieren, wohl aber: Wie man sie misst und wie die Brenndauer im Alltag ist?
Wenn man sich in der Berliner Öffentlichkeit bewegt, fällt einem auf, wie wenig Männer und Frauen Wert auf Attraktivität legen – sie haben anscheinend noch Wichtigeres zu tun. In der hiesigen Linken hat es dennoch immer wieder Versuche gegeben, die „bürgerliche Attraktivität“ abzustreifen: durch Uniformität, Nivellierung der Geschlechtsunterschiede und Antikonsumismus. Die Wiener „Aktionsanalyse-Kommune“ – der gerade mit einer Ausstellung im Kunsthof, Oranienburgerstraße 27, gedacht wird – hatte versucht, einen neuen befreiten Begriff von Attraktivität zu entwerfen. Über die sträflingshaft rasierte Nacktheit sollte eine nonverbale und nicht abgepanzerte Ausdrucksform von „proletarischer Potenz“ erreicht werden: Wahre Schönheit kommt von innen, davon ging auch schon das Bürgertum aus. Nur machen eben die Zumutungen des Erwerbstrebens schnell aus einem schönen Jüngling einen unansehlichen Drecksack.
Dennoch kann man sagen, dass die Menschen im Süden, weil dort die Öffentlichkeit noch eine größere Rolle spielt, mehr Wert auf Attraktivität legen. Dabei geht es primär um Körperlichkeit – ihr Anknipsen ist Biopolitik – und die ist wesentlich sozial: Ein Outfit, der in After-Work-Bars erotisch wirkt, ist tagsüber in Versicherungsbüros z. B. völlig deplaziert. In Grazer Bordellen haben es dicken Blondinen geschafft, alle Ausländerinnen draußen zu halten – um Attraktivitätskonkurrenz zu vermeiden. In ihrer Not haben die Zuhälter angefangen, sich für Kunst zu interessieren. Hier hat nur der Frühling noch attraktivitätssteigernde Wirkungen – und der Zwischenkriegsflaneur kurz Konjunktur. „Aber das Leben ist kein Spaziergang“, wie Pawel Florensky sagt. HELMUT HÖGE
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