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Archiv-Artikel

nebensachen aus porto alegre Gegen die Niederlage hilft nur Kummer-Shopping im Konsumtempel

Brasiliens Mittelschicht versucht, den WM-Schock da zu verdrängen, wo sie am liebsten ist: im „Shopping“. Samstagabend, gleich nach der Niederlage gegen Frankreich, füllten sich Porto Alegres Konsumtempel wie sonst nur selten. Noch waren die Kleider- und Spielzeugläden mit Luftballons geschmückt. Bei WMs wogt die kollektive Begeisterung hoch, und alle wollen davon profitieren: Politiker, das Globo-Fernsehen, Coca-Cola und die längst zu Marken mutierten Fußballstars. Alle vier Jahre beschwören die Medien die Größe der Nation und deklarieren Haupt- zu Nebensachen. Passé.

In den Städten funktioniert die soziale Apartheid Brasiliens so: Die Bewohner der ärmeren Viertel suchen die wuselnden, oft heruntergekommenen Innenstädte mit ihren Straßenverkäufern und Billigläden auf, die oberen 15 Prozent kutschieren in die Einkaufszentren. Für Stararchitekt Paulo Mendes da Rocha ist das Shopping ein Paradebeispiel für das selbst gewählte „Eingesperrtsein“ der Besserverdienenden, die dadurch die Städte kaputtmachten. Übernommen haben die Brasilianer die Einrichtung aus den USA, und die Segnungen des „American way of life“ gleich dazu: Draußen parken hunderte Autos, drinnen gibt es Junk Food. „Das Schlimmste sind die praças de alimentação“, findet Mendes da Rocha, jene rechteckig um Tische angeordneten Essenskioske, wo die Massen wie Vieh abgespeist werden. Und abgesehen von wenigen Programmkinos gibt es nur noch Multiplex-Säle – natürlich im Shopping.

Die Einkaufszentren stünden dem demokratischen Ideal entgegen, meint die Soziologin Valquíria Padilha: „Wer mehr Geld hat, hat mehr Rechte. Die Konsumenten verschlucken die Bürger. Bürgerrechte brauchen öffentlichen Raum, und den gibt es im Shopping Center nicht.“ Dafür steigt das Angebot an Gütern und Dienstleistungen: Drogerien und Buchläden gehören mittlerweile zur Standardausstattung, die Kleinen können bei Plastikspielplätzen der Obhut von BetreuerInnen überlassen werden.

Für die behüteten Jugendlichen des Mittelstands gibt es kaum ein anderes Freizeitvergnügen als das Flanieren in der immer gleichen Glitzerwelt der Shoppings. Man bleibt unter seinesgleichen und wiegt sich in Sicherheit: Privates Sicherheitspersonal und hunderte Videokameras haben die neuen Ministädte scheinbar fest im Griff, die hohen Preise grenzen die meisten Brasilianer aus. Ein Ende des Booms ist nicht in Sicht: 600 Konsumtempel gibt es landesweit, davon drei Viertel im „entwickelten“ Süden und Südosten.

Die Außenwelt kommt in den Kommerzkathedralen nur noch vermittelt vor, nicht mal ein Blick nach draußen ist noch möglich. Kein Wunder, dass aus dieser Perspektive jede direkte Begegnung mit der urbanen Wirklichkeit als bedrohlich wahrgenommen wird. Wer zugibt, sich in der City wohlzufühlen, erntet verwunderte Blicke. Aber selbst die Shopping-Idylle bekommt hin und wieder Risse: Vorige Woche statteten Räuber mitten am Tag einem Juwelier in Porto Alegres ältestem Einkaufszentrum einen Blitzbesuch ab – und entkamen unbehelligt. GERHARD DILGER