nebensachen aus moskau : Ein leuchtendes Beispiel für russische Moralapostel: Statt lebenslänglich ein Bund fürs Leben
Anastasia hatte Streit mit ihrem Freund. Igor war gereizt und verlangte den nagelneuen BMW zurück. Dabei hatte Igor Lanzew vom Tradinghouse Kreml, dem kulinarischen Hoflieferanten der Macht, schon eine halbe Million Dollar in die kurze Liebschaft mit Anastasia Nasinowskaja investiert. Rundum zufrieden war die 23-jährige Ökonomiestudentin nicht. „Stasia“ hatte den Titel Miss Moscow nur knapp verfehlt, ein Pfund, womit sich wuchern ließ. Die junge Frau sann auf Rache, stahl zehntausend Dollar aus Igors Brieftasche und beauftragte einen Killer, den undankbaren Gönner umzubringen. Zehntausend als Anzahlung, den Rest nach Vollzug und Vorlage eines Beweisfotos.
Die Sache flog auf und Anastasia wanderte in Haft. Zwanzig Jahre Gefängnis drohten ihr, wenn nicht, ja, wenn nicht der verliebte Igor Mitleid gehabt und einen hochkarätigen Anwalt engagiert hätte. Igors Heiratsantrag nahm Stasia freudig an und die Strafe fiel mild aus: fünf Jahre auf Bewährung. Aus „lebenslänglich“ wurde ein Bund fürs Leben.
Igors und Anastasias Bewährungsehe könnte nun ein leuchtendes Beispiel werden. Soziologen, Kirchenväter und allerhand Moralapostel beklagen nämlich den rasanten Verfall familiärer Werte in Russland. Von 1.000 Ehen gehen 800 (83 Prozent) im Nu wieder in die Brüche. Russen sind beim Heiraten und Scheiden die flinkesten, ermittelte eine Studie, die Unicef in den Staaten der GUS, Zentral- und Osteuropas durchführte. Neben einer extrem niedrigen Rate von 1,25 Geburten pro Frau besetzt Russland weiterhin unangefochten mit 139 Abtreibungen auf 100 Babys einen Spitzenplatz.
Und wer ist schuld? Die Medien, beschied der Patriarch der Orthodoxen Kirche, Alexei II.: „Sie sind es, die die Saat von Zügellosigkeit, Egoismus, kultartiger Bequemlichkeit und moralischer Schrankenlosigkeit säen.“
Ganz so einfach ist das nicht. In der streng reglementierten kommunistischen Mangelgesellschaft, die offiziell keinen Sex kannte, frönten die Geschlechter bereits einer Libertinage, die als kompensatorisches Ventil diente. Jeder trieb es, jeder wusste es, jeder leugnete es. So entstand ein fruchtbarer Boden für Heuchelei und Doppelmoral.
Darunter haben junge Leute heute zu leiden. Die ältere Generation lehnt vorehelichen Sex ab und treibt den Nachwuchs in Frühehen. Wirtschaftlich hängen sie meist noch am elterlichen Tropf und empfinden Nachwuchs als Belastung. Die horrende Zahl der Heimkinder und Aborte belegt dies. Familienplanungsunterricht in Schulen, meint Anatoli Wischnewski vom Zentrum für Demografie, könnte den Risiken vorbeugen. Die Versuche scheitern am Widerstand der Ministerien für Gesundheit, Erziehung und Wissenschaft, die die Jugend stattdessen durch Wehrkunde lebenstauglich machen.
Dass Kleinkinder nicht zu beneiden sind, dürfte den Moralaposteln nicht verborgen geblieben sein. Denn auch Alimente zahlen entlaufene Väter eher selten. Seit Stalin ist dies überhaupt aus der Mode gekommen, er schaffte das Gesetz nach dem Zweiten Weltkrieg einfach ab. Die wenigen Männer (einer auf drei Frauen) sollten dem Reproduktionsauftrag ungezwungen nachgehen können. Das taten sie denn auch, was das Bild vom Mann und Vater eintrübte. So hat sich Anastasia von Igor eigentlich nur zurückgeholt, was Vater ihr vorenthalten hat. Sie darf sich stillschweigender Zustimmung sicher sein. KLAUS-HELGE DONATH