nebensachen aus bukarest: Diebstahl als Volkssport
Bloß den Hausfrieden nicht stören
In dem kleinen Wohnblock in der Luchian-Straße waren alle neu installierten Glühbirnen immer schnell aus dem Treppenhaus verschwunden. Bis die Bewohner resigniert auf die Flurbeleuchtung verzichteten.
Auch die hochwertigen Euro-Mülltonnen aus Hartplaste waren mehrmals gestohlen worden, denn in keinem Behältnis konnten die Gemüsehändler vom Obor-Markt besser Kohl einlegen. Nach mehreren gescheiterten Experimenten mit angeketteten Euro-Tonnen kehrten die Anwohner deshalb zu den zerbeulten Blechmülltonnen zurück.
Wirklich ernsthaft war der Fall des Hausverwalters. Er hatte den Bewohnern seit langem überhöhte Abrechnungen für Wasserverbrauch, Zentralheizung und Nebenkosten präsentiert. Das Geld der Bewohner lagerte er bei einer Bank ein und lebte von den Zinsen, die Schulden bei den Stadtwerken bezahlte er nur sporadisch.
Als seine Betrügereien aufflogen, versammelten sich die empörten Bewohner. Es kam zu einer erregten Diskussion über Diebstahl im Allgemeinen. Das Stehlen war zweifellos ein Volkssport und hatte sich zu einem blühenden Wirtschaftszweig entwickelt. Zum Beispiel beschäftigten sich tausende Menschen damit, die Pipelines der Raffinerien anzubohren, Benzin abzuzapfen und es billig zu verkaufen.
Auch der Schrotthandel im Land florierte nur durch Diebstahl. Die Metallsammler nahmen die schweren Deckel der Kanalisation mit und sägten Telefonmasten ab, um an die Kupferkabel der Leitungen zu kommen. Sie gruben Starkstromleitungen von Industriebetrieben aus, zerlegten Waggons, Lokomotiven und demontierten Schienen, bis die Züge entgleisten. Sie stahlen Bewässerungsanlagen, weshalb die letztjährige Ernte im Süden des Landes verdorrte. Nicht mal die Bronzebuchstaben am Nationaldenkmal der Großen Vereinigung von 1918 waren ihnen heilig. Hauptsache, bei der Schrott-Annahmestelle kamen viele Tonnen auf die Waage.
Neuerdings stehlen die Leute sogar ganze Straßen, wie in jenem kleinen Dorf im Nordosten. Dort hatten die Bewohner sieben Kilometer frisch gebaute Landstraße sorgfältig abgetragen und mit dem so gewonnenen Asphalt ihre Dorfwege ausgebessert.
All diese Tatsachen erschütterten die Leute aus der Luchian-Straße so sehr, dass sie plötzlich aufeinander einschrien: „Wir sind ein elendes, unzivilisiertes Volk von Dieben! Wie schrecklich!“ Sie nickten sich verständnisvoll zu, einige umarmten sich und hatten Tränen in den Augen. Resigniert stellte die Hausversammlung fest, dass gegen Diebstahl kein Kraut gewachsen sei.
Zwei junge Leute, beide Jura-studenten, fragten vorsichtig, wie die Bewohner nun mit dem betrügerischen Hausverwalter verfahren sollten. Da bekamen sie die ganze Wut der anderen zu spüren. „Wollt ihr etwa unseren jahrzehntealten Hausfrieden stören und die Polizei holen?!“, schrien die Leute. Eine ältere Dame nahm den Hausverwalter in den Arm. „Er hat auch einmal einen Fehler gemacht, der ärmste! Wir werden uns schon einigen.“
KENO VERSECK
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